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1. Petrus 4,7-11 | 18. Sonntag nach Trinitatis | 29.09.2024

Einführung in den 1. Petrusbrief

Der erste Petrusbrief wird den katholischen Briefen zugerechnet. Er wendet sich also nicht an Einzelgemeinden oder konkrete Personen, sondern hat umfassend alle im Blick, die an Christus glauben. Konkret richtet sich der Brief an verschiedene christliche Gemeinden in Kleinasien. Die fünf Kapitel des Mahn- und Ermutigungsschreibens sind in einem gehobenen Griechisch verfasst und von Textelementen gerahmt, die ihn als Brief erscheinen lassen.

1. Verfasser

Eine Mehrheit der Exegetinnen und Exegeten sieht den ersten Petrusbrief als pseudepigrafisch an, d.h. man geht davon aus, dass der Brief nicht von Petrus als dem wichtigsten Jünger Jesu geschrieben wurde, sondern dass sich der Autor des Briefes die Autorität des Apostels „leiht“. Ob der am Ende des Brieftextes genannte Sylvanus (1Petr 5,12) als Sekretär oder Bote fungierte, ist umstritten.

Der Brief selbst lässt keinen spezifisch petrinischen und galiläisch geprägten Hintergrund erkennen. So stellt sich die Frage, ob es der Verfasser bewusst auf Durchschaubarkeit der Pseudepigrafie seines Schreibens angelegt hat. In diesem Fall würde der Autor mittels der Gegenüberstellung des ersten Wortes des Briefes (Petrus) und seines letzten Wortes (Christus) den Blick seiner Leserschaft in die für ihn entscheidende Richtung lenken: weg von der vermeintlichen Autorität eines fiktiven und zu Beginn genannten Autors hin zu Christus, als dem allein wichtigen Inhalt, durch den und in dem abschließend alle genannten christlichen Gruppen verbunden sind.

2. Abfassungszeit

Eine vorausgesetzte, bereits entwickelte und etablierte Gemeindesituation sowie eine Notiz des Papias (ca. 60-163 n. Chr.) beim Kirchenvater Euseb (ca. 260-340 n. Chr.; h.e. III,39,17) und ein Bezug in 2 Petr 3,1 machen für die Entstehung des ersten Petrusbriefes ein Zeitfenster zwischen 70‑110 n. Chr. wahrscheinlich. Die bemerkenswerte Fülle der mit Selbstverständlichkeit gebrauchten alttestamentlichen Zitate und Anspielungen deutet auf einen im Judenchristentum beheimateten Autor.

3. Wichtige Themen

Die thematische Mitte des ersten Petrusbriefes bilden zum einen die Beschreibung des Lebens der Gläubigen als einer Existenz in der Fremde und zum anderen die Deutung des ungerechtfertigten Leids, das den Gemeindegliedern begegnet. Die Angehörigen der christlichen Gemeinde leben als Erwählte, die am himmlischen Erbe teilhaben, in einem von ihnen als feindlich erfahrenen Umfeld.

Ihr Leiden lässt die Adressatinnen und Adressaten des Briefes in die Nachfolge Christi treten und ist damit Ausweis ihrer Rettung. Für die bevorstehende Heilszeit wird ihnen Genugtuung verheißen.

Wie sich die Existenz der ersten Christusgläubigen in der Fremde vollziehen soll, wird u.a. in einer „Haustafel“ konkretisiert (1 Petr 2,18–3,7), die sich dezidiert an Sklaven und Ehegatten richten. Über die genannten Personenkreise hinaus ist der Autor bestrebt, auch alle anderen ihm wesentlich erscheinenden Gemeindegruppen in und durch Christus zu vereinen: Christusgläubige und heidnischer Herkunft, Frauen und Männer, Alte und Junge, Leidende und Jubelnde, Gemeindeleiter und Gemeindeglieder, Lebende und Tote. Mit der Erwähnung Letzterer beantwortet der Verfasser die Frage nach der Rettung derer, die vor und nach Jesu irdischer Existenz gestorben sind, ohne die Heilsbotschaft erfahren zu haben. Mit dem ins apostolische Glaubensbekenntnis eingegangenen Aufenthalt Christi im Totenreich (1Petr 3,19) wird zeitunabhängig auch allen Verstorbenen eine Heilsoption eröffnet.

4. Besonderheiten

Taufe: Von der im letzten Jahrhundert vertretenen These, es handele sich beim ersten Petrusbrief (z.T.) um eine Taufpredigt, wurde wieder Abstand genommen. Der erste Petrusbrief möchte nicht die Taufe erklären oder deren Notwendigkeit begründen, sondern seine Intention ist es, unter Verweis auf die bereits fest in der Gemeinde verankerte Taufe auf die alle Zeiten übergreifende Rettung durch Christus zu verweisen. Er ruft die als Kinder Gottes wiedergeborenen Gläubigen auf zu einer missionarischen Existenz und zu einem Gott wohlgefälligen Lebenswandel.

Petrus und Paulus: Auch wenn eine spezifisch paulinische Diktion nicht durchgängig erkennbar ist, berührt sich der erste Petrusbrief u.a. mit Blick auf den stellvertretenden Heilserwerb durch den sündlosen Christus mit den als echt geltenden Paulusbriefen. Ungeachtet diverser Beziehungen lässt sich eine literarische Abhängigkeit zwischen dem ersten Petrusbrief und dem Corpus Paulinum oder den Evangelien nicht nachweisen. Indem der Autor sich mit seinen Schlussgrüßen selbst in Babylon ansiedelt (Chiffre für Rom; 1Petr 5,13), macht er deutlich, dass er sein Schreiben in Rom verortet wissen möchte.

Literatur:

  • Müller, Chr. G., Der erste Petrusbrief (EKK XXI; Ostfildern, Göttingen 2022).
  • Ostmeyer, K.-H., Die Briefe des Petrus und des Judas (Botschaft des NT; Göttingen 2021).
  • Vahrenhorst, M., Der erste Brief des Petrus (ThKNT 19; Stuttgart 2016).
  • Wagner, G. / Vouga, F., Der erste Brief des Petrus (HNT; Tübingen 2020).

A) Exegese kompakt: 1. Petrus 4,7-11

7Πάντων δὲ τὸ τέλος ἤγγικεν. σωφρονήσατε οὖν καὶ νήψατε εἰς προσευχὰς 8πρὸ πάντων τὴν εἰς ἑαυτοὺς ἀγάπην ἐκτενῆ ἔχοντες, ὅτι ἀγάπη καλύπτει πλῆθος ἁμαρτιῶν, 9φιλόξενοι εἰς ἀλλήλους ἄνευ γογγυσμοῦ, 10ἕκαστος καθὼς ἔλαβεν χάρισμα εἰς ἑαυτοὺς αὐτὸ διακονοῦντες ὡς καλοὶ οἰκονόμοι ποικίλης χάριτος θεοῦ. 11εἴ τις λαλεῖ, ὡς λόγια θεοῦ· εἴ τις διακονεῖ, ὡς ἐξ ἰσχύος ἧς χορηγεῖ ὁ θεός, ἵνα ἐν πᾶσιν δοξάζηται ὁ θεὸς διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ ᾧ ἐστιν ἡ δόξα καὶ τὸ κράτος εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων, ἀμήν.

1. Petrus 4:7-11NA28Bibelstelle anzeigen

Übersetzung

7 Das Ende von allem ist herangekommen. Seid nun besonnen und nüchtern zum Gebet.

8 Vor allem habt zueinander beständige Liebe, denn Liebe deckt die Sündenmenge zu.

9 Seid gastfreundlich zueinander ohne zu murren.

10 Entsprechend der Gnadengabe die jeder empfangen hat, dient einander als gute Verwalter der vielgestaltigen Gnade Gottes.

11 Wenn einer redet, dann rede er es als Aussprüche Gottes. Wenn einer dient, dann sei es mit aller Kraft, die Gott verleiht. Auf dass in allem Gott verherrlicht werde durch Jesus Christus. Ihm sei Ruhm und Macht in alle Ewigkeit. Amen.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

χορηγέω begegnet im Neuen Testament nur hier (1 Petr 4,11) und in 2 Kor 9,10 in der Bedeutung „darbieten“ oder „gewähren“. Auch in den griechischen Übersetzungen der alttestamentlichen Schriften wird der Begriff nur selten und dort vor allem in den Apokryphen gebraucht. Etwas häufiger ist in der Briefliteratur des NT die gleichbedeutende Verwendung als Kompositum „ἐπιχορηγέω“ (2 Kor 9,10; Gal 3,5; Kol 2,19; 2 Petr 1,5.11).

2. Literarische Gestaltung und Kontext

Was wird erzählt? – Die Gläubigen in der Zwischenzeit: Die Gegenwart der Gottesherrschaft geht einher mit dem schon als angekommen gedachten Ende der bisherigen Welt. Verbunden damit ist die Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Gerichts (4,7a). Die Gläubigen existieren in einer Zwischenzeit: Einerseits leben sie in dieser Welt (d.h. im Fleisch; vgl. 4,2). Andererseits haben sie im und durch den Glauben an den Auferstandenen bereits Anteil am Reich Gottes. Der Modus der Teilhabe der Gläubigen daran ist das Gebet (4,7b). Modern gesprochen ist das Gebet die durch Christus hergestellte Schnittstelle zwischen den Welten, der Welt des Schöpfers und der seiner Geschöpfe. Statt an der vergehenden Welt zu verzweifeln, gilt es, sich mit klarem Verstand („nüchtern“) auf das Gottesreich zu konzentrieren, das im Gebet bereits gegenwärtig ist. Die im Kontext des Gebetes eingeforderte Nüchternheit korrespondiert den in 1 Petr 4,3 zurückgewiesenen Rauschzuständen.

Wie wird erzählt? Die Anfänge der aufeinanderfolgenden Verse in 4,7 und 4,8 sind parallel konstruiert („von / vor allem…“; πάντων / πρὸ πάντων): Die persönliche Rettung im allumfassenden Gericht ist das eine, der alles bestimmende Umgang mit den anderen Gläubigen innerhalb der Übergangszeit das andere (4,2). Die Art und Weise der Begegnung der Gemeindeglieder untereinander ist ausdauernde Liebe (4,8a). Sie findet ihren Ausdruck nicht (nur) in punktuellen Liebestaten, sondern gemeint ist Liebe als eine Grundhaltung, die auch die Nicht-Gläubigen mitumfasst. Ihnen ist zu begegnen als Noch-nicht-Gläubigen. Damit ist christliche Existenz zugleich missionarische Existenz (vgl. 2,15). Eine liebende Grundhaltung deckt die Sündenfülle zu (4,8b). Das aktuelle Leben der Christinnen und Christen ist so zu führen, dass etwaige aktuelle Sündentaten darin untergehen.

Sündenmacht vs. Sündentaten: Hieß es in 4,1b noch, wer im Fleisch, d.h. in dieser Welt leidet, hat mit der Sünde abgeschlossen, so spricht 4,8b von einer Liebe, die die Sündenmenge zudeckt (vgl. Spr 10,12). Der Gebrauch des Singulars „die Sünde“ (4,1b) im Gegenüber zu „den Sünden“ im Plural (4,8b) eröffnet die Möglichkeit, an die Sündenmacht im Unterschied zu den einzelnen Sündentaten zu denken. Von ersterer sind die Gläubigen durch Christi Heilstat und den Glauben an das Evangelium ein für alle Mal befreit. Den Sündentaten, die auch die Erlösten noch tun, sollen sie ein Übermaß an Liebe, d.h. ihre liebende Grundhaltung entgegenstellen (vgl. 3,21b). Die Liebe macht keine halben Sachen, das Sündenmeer in seiner Gesamtheit ist durch sie vollständig und dauerhaft zugeschüttet.

3. Historische Einordnung und Schwerpunkte der Interpretation

Ethik der Gläubigen in einer ihnen feindlichen Welt: Zur Zeit des ersten Petrusbriefes lebt und überlebt die junge und angefochtene Gemeinde durch den Zusammenhalt in einer feindlichen Welt. Die Gemeinde bildet in der Antike ein „weltweites“ Netz, das jede Christin und jeden Christen auffängt. Fremde, Reisende und Flüchtlinge sind ohne Wenn und Aber aufzunehmen (4,9; vgl. Hebr 13,2). Die Alternative für neu in einen Ort kommende und von der Gesellschaft beargwöhnte Gläubige wären Obdachlosigkeit und Anfeindung.

Die Aufforderung zur Geschwisterliebe gilt jeder und jedem nach Maßgabe der je eigenen Möglichkeiten (4,10a). Alle Gläubigen mögen sich selbst als reich beschenkt durch Gottes Gnade betrachten. Gute Verwalterinnen und Verwalter dieser Gnade zu sein, bedeutet, dass die Großzügigkeit im Umgang damit derjenigen Großzügigkeit entspricht, mit der man die Gnadengabe selbst zugeteilt bekommen hat (4,10b).

Das konkrete christliche Handeln gegenüber den Nächsten ist der eine Eckpfeiler (4,10b.11b), der andere ist das Reden der Gläubigen (4,11a; vgl. 3,15c). Für Menschen, die in dieser Welt bereits an jener teilhaben, ist jedes Wort, das ihnen durch Gemeindeglieder zugesprochen wird, Ausdruck ihrer Zugehörigkeit zum Herrschaftsbereich Gottes und das heißt, es ist selbst wie ein Wort Gottes (4,11a; „als Aussprüche Gottes“). Ein solcher Anspruch an die eigenen Worte und an die von Gläubigen gehörte Rede verändert mittels der Sprache notwendig das Denken und Handeln.

Die Quellen christlicher Ethik: Kein christliches Tun, kein Dienst an anderen geschieht aus menschlicher Kraft und Einsicht. Werke von Christinnen und Christen schöpfen ihre Energie aus Gott (4,11b). Solches Handeln der Gläubigen dient der Verherrlichung Gottes. Damit wird Christinnen und Christen eine ungeheure Verantwortung auferlegt: Alles, was sie sagen und tun, soll zur Ehre Gottes geschehen (4,11c; vgl. 1,7c; 2,12b). 4,7–11 beinhaltet der Sache nach eine christliche Ethik, die durch ein im ersten Petrusbrief hier erstmalig gesprochenes „Amen“ bekräftigt wird (vgl. 1Petr 5,11).

4. Theologische Perspektivierung

Christinnen und Christen stehen vor der Frage, wie sie ihr Leben vor dem Hintergrund des nahen Endes angemessen führen sollen. Die in 4,7 formulierte Aufforderung zur Nüchternheit bietet das Gegenstück zum vormals ausschweifenden Leben der noch Unbekehrten: Gläubige führen ein nüchternes Leben vor Gott im Gebet.

Damit wird an die Bitte zu Gott um ein gutes Gewissen aus 3,21 angeknüpft. Das christliche Leben konkretisiert sich in der Liebe der Gemeindeglieder untereinander und in der Gastfreundschaft. Wie das Erdulden ungerechter Leiden in der Nachfolge Christi (= passiv) für die Ruhe vor der Macht der Sünde steht (4,1), so bedeutet christliche Liebe (= aktiv) die Überdeckung der Sündentaten (4,8).

Für Gläubige existiert kein von Gott unabhängiges Handeln oder Reden. Damit dient jede Tat und jedes Wort einer Christin und eines Christen der Verherrlichung Gottes.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Exegese arbeitet deutlich heraus, dass in einer Zeit der Bedrängnis mit Nachdruck ein Trotzdem formuliert wird. In dieser Zwischenzeit wird eine Verheißung skizziert, die geglaubt wird, deren Kraft, den Alltag zu verwandeln, allerdings erst ansatzweise spürbar ist. Angesichts der gesellschaftlichen Wahrnehmung schwerwiegender Krisen ist dieses Trotzdem höchst relevant und es steht für eine geistliche Wahrheit, deren Erfahrung flüchtig ist. Worin wird diese Verheißung der Herrschaft Gottes dennoch erkennbar? Statt der Weltflucht werden Nüchternheit (Realitätssinn) und die Verbundenheit mit Gott und den anderen Gläubigen im Gebet als Grundhaltungen empfohlen. Diese geistlichen Haltungen und die Handlungsformen (Gastfreundschaft) scheinen dabei ineinander überzugehen, was die alte Frage aufwirft, in welcher Weise menschliche Anstrengungen daran beteiligt sind, dass Gottes Reich ins Werk gesetzt wird und ganz konkrete Formen annimmt. Interessant und erhellend sind die von der Exegese herausgearbeiteten facettenreichen Beschreibung dieses Zwischenzustandes. Es ist eine Schwellensituation, in der Gebet, Nüchternheit und Solidarität orientierend und stärkend wirken, ohne allerdings die erfahrene Not aufzuheben.

2. Thematische Fokussierung

Offenkundig wirft die Erfahrung ökonomischer und gesellschaftlichen Konflikte, Spannungen und Verunsicherungen existenzielle Fragen nach dem Woher und Wohin auf und lässt danach fragen, ob und in welcher Weise Gott seiner Schöpfung die Treue hält. Nicht das Ende der Welt oder eine Gerichtserwartung, sondern der Eindruck, dass eine für viele Menschen als sicher wahrgenommene Welt- und Lebensordnung von verheerenden politischen Aggressionen und Naturkatastrophen infrage gestellt wird, bietet einen Anknüpfungspunkt an die Situation des Textes. Die Empfindung einer Zwischenzeit wankender Sicherheiten und eines Übergangs in eine unbekannte Zukunftsordnung prägt das Lebensgefühl vieler Menschen in unterschiedlicher Weise und erfüllt viele mit Sorge. Eine Verflachung der Perikope hin zu einer ausschließlich ethischen oder politischen Lesart, die die geistliche Dimension des Textes übersieht, gilt es in der Predigt zu vermeiden und stattdessen die vielfältigen Perspektiven und Gefühle aufzugreifen: Der Hinweis auf Haltungen und Handlungsformen (uneingeschränkte Gastfreundschaft, Gebet, Nüchternheit) korrelieren mit der Stärke in und durch die christliche Liebe, welche als geistliche und zugleich überaus machtvolle weltlich wirksame Größe skizziert wird. „Wenn einer redet, dann rede er es als Aussprüche Gottes“, bedeutet für die Sprecherposition, dass es keinen Unterschied macht, wer an der Liebe Gottes Anteil hat und sie weiterträgt. Das Ansehen der Person spielt dabei keine Rolle.

3. Theologische Aktualisierung

Die Erfahrung der Zerrissenheit, die der Perikope zu entnehmen ist bzw. das wuchtige Trotzdem, das umrissen wird, kann für die Aktualisierung eine geeignete Leitperspektive sein. Die Verheißung des Textes liegt in der Charakterisierung Gottes, der Gnadengaben schenkt und Kraft verleiht, sowie die Grundhaltung der Liebe, die so stark ist, dass sie sogar das Sündenmeer zuschüttet. Diese Beschreibung der schöpferischen Kraft, die Gott den Menschen schenkt und die sich in Zusammenhalt, uneingeschränkter Gastfreundschaft und Liebe finden, gilt es in der Predigt fassbar zu machen. Als der gegenwärtigen Hörerschaft eher fremd, dürften die Erwartung eines Endes der Zeit im engeren Sinne und eine religionsbezogene Stigmatisierung sowie die Gerichtserwartung sein. Neben dem Facettenreichtum der skizzierten Situation der Bedrängnis ist die Reflexion darüber, dass der christliche Glaube eine große Schule der Hoffnung und Lebenspraxis repräsentiert und dieser Text eine von vielen Auseinandersetzungen mit Not und Leiden darstellt, weiterführend. Nicht als Vertröstung, sondern als Auseinandersetzung mit dem Umgang mit Ungewissheit ist diese Perikope aufschlussreich, sofern ein Perspektivwechsel skizziert wird: Die adressierten Gläubigen sind keineswegs ohnmächtig, sondern sie werden von Gott gestärkt und begegnen einander solidarisch. Sie sind Gestaltende aus der Liebe Gottes heraus, wodurch sie Gott selbst verherrlichen. Die Erfahrung der Unsicherheit oder Erschöpfung soll entsprechend nicht mit einem Rückzug beantwortet werden, sondern die Menschen werden als Handelnde geschildert, die in dieser Situation mit Liebe und Solidarität reagieren.

4. Anregungen

Die Auswahl der biblischen Texte am 18. Sonntag nach Trinitatis (Ps 1; 2. Mose 20,1-17; Eph 5,15-20) steht im Zeichen der menschlichen Lebens- und Weltgestaltung. Die Texte laden damit zum Innehalten ein, wobei es ein Moralisieren zugunsten eines theologisch reflektierten Umgangs mit der den Menschen von Gott übertragenen Verantwortung zu vermeiden gilt. Zu diesem Zweck könnte es erhellend sein, den Predigttext im Lichte der anderen biblischen Texte des Gottesdienstes zu spiegeln.

Die hohe theologische Sättigung der Sprache der Perikope muss in der Predigt aufgebrochen werden, um eine formelhafte Rede zu verhindern. Als Ausgangspunkt und lebenspraktische Mitte bietet sich die Auseinandersetzung mit der geforderten Gastfreundschaft an. Dabei leben Menschen Gemeinschaft und Solidarität, womit viele Menschen im Zuge der Aufnahme und Begleitung von Geflüchteten aus der Ukraine zuletzt Erfahrungen gesammelt haben. Einander in Gastfreundschaft und Liebe zu begegnen, besitzt offenkundig ein großes Potenzial zur Stärkung und Veränderung, so dass selbst Sünden bzw. Verfehlungen verblassen. Und wer solches tut, wandelt quasi in der Stärke Gottes. Hätten nicht einige Auseinandersetzungen mit Angehörigen, Kolleginnen und Nachbarn einen anderen Verlauf genommen, wenn man sein Gegenüber einmal eingeladen und aufmerksam zugehört hätte? Sind Gastfreundschaft und Solidarität nicht das Therapeutikum gegen soziale Kälte, Streitigkeiten und Untergangsfantasien? Wie beschwingt und angeregt sind Abende, bei denen Menschen sich füreinander öffnen, einander zugehören und aufeinander reagieren. Als Gastgeschenke können Ideen, Anekdoten und Gedanken anderer mit nach Hause genommen werden. Solidarität und Gastfreundschaft bezeichnen mehr als eine warme Mahlzeit, sondern Begegnung und Austausch, die ins Weite führen und neuen Anfänge den Weg ebnen.

Autoren

  • Prof. Dr. Karl-Heinrich Ostmeyer (Einführung und Exegese)
  • Prof. Dr. Sonja Keller (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500063

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