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Psalm 16,(1-4)5-11 | 16. Sonntag nach Trinitatis | 15.09.2024

Einführung in die Psalmen

Für umfangreichere Informationen besuchen Sie den Artikel Psalmen (AT) im WiBiLex

1. Der Psalter – das Psalmenbuch

Mit „Psalter“ bezeichnet man in der Regel die Sammlung von 150 Psalmen (in der griechischen Tradition 151 Psalmen), aufgeteilt auf fünf Bücher, wie sie im hebräischen Alten Testament zusammengestellt sind. Die atl. Exegese hat sich, vor dem Hintergrund variierender Psalmensammlungen in Qumran, in den letzten 30 Jahren intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, welche Kriterien der Zusammenstellung der biblischen Psalmen zugrunde liegen und was dies für die Lektüre von Einzelpsalmen bzw. Psalmengruppen bedeutet (Zenger 2000, 416-435). Die Ansicht, dass es sich bei dem Psalter um ein Gesangbuch des Zweiten Tempels handelt, wird kaum noch vertreten. Einzelne Psalmen mögen tatsächlich im öffentlichen Tempelkult ihren Ort gehabt haben (s. die Verweise auf ein Tempelweihfest Ps 30,1 oder den Sabbat Ps 92,1; in der LXX kommen auch Hinweise auf verschiedene Wochentage hinzu), der größere Teil hingegen ist auf den Einzelnen ausgerichtet. Auch was die musikalische Aufführung von Psalmen betrifft, bewegen wir uns auf unsicherem Terrain. Einerseits kann man wenig Konkretes über das Singen von Psalmen und die Verwendung von Musikinstrumenten sagen, andererseits lassen die vorhandenen Anmerkungen in den Texten, die Verweise auf Sängergruppen, Melodien und Instrumente doch die Annahme zu, dass es eine musikalische Begleitung des Gebets gegeben hat.  

2. Die Psalmen

Während die Bezeichnungen Psalm und Psalter auf eine musikalische Tradition und den Vortrag von Psalmen verweisen, wird mit den Bezeichnungen tehillīm „Preisungen“ (tehillāh als Lobpreis Gottes; „…und mein Mund wird deinen Lobpreis verkündigen“, Ps 51,17b), und tepillāh „Gebet“ (so in der vorläufigen Schlussnotiz Ps 72,19 „Ende der Gebete Davids“) die Rede zu, mit und auch über Gott in den Blick genommen. Die Psalmen sind, als poetische Texte, das eine wie das andere, Lied, begleitet mit Saitenspiel, Lobpreis und Gebet.

Mit Aufkommen der Gattungsforschung Ende des 19. und Anfang des 20. Jh.s wurden Einzelpsalmen auf bestimmte wiederkehrende Muster bezüglich ihrer Form und ihrer institutionellen Einordnung, d.h. ihres sog. Sitzes im Leben, hin befragt. Die Klagelieder des Einzelnen (s. Ps 13) erweisen sich als größte derart als Gruppe erkennbare Psalmen. Ihnen liegt i.d.R. eine recht klare Struktur zugrunde (Anrufung, Klage, Bitte, Vertrauensbekenntnis/Lobgelübde). Der immer wieder als auffällig wahrgenommene Stimmungsumschwung von der Klage zum Lob/Dank wurde mit diversen Theorien zu erklären versucht. Letztlich bleibt jedoch vor allem festzuhalten, dass „hinter der Wende von der Klage zum Lob ein Prozess, genauer: ein Gebetsprozess steht, der von Anfang an, d.h. mit Beginn des Betens, in Gang kommt und den ganzen Text durchzieht“ (Janowski, Konfliktgespräche, 77). Formal weniger deutlich strukturiert, inhaltlich jedoch gut zuzuordnen, sind die Klagelieder des Volkes (z.B. Ps 79).

Das Lob Gottes äußert sich in den Hymnen, die zum Lob auffordern und es anschließend entfalten (Ps 98,1: „Singt JHWH ein neues Lied, denn er hat Wunder getan, seine Rechte hat ihm geholfen, sein heiliger Arm“). Teilweise wird das hymnische Loblied vom Danklied (Ps 30 u.ö.) unterschieden. Terminologisch findet es sich im hebr. tôdāh „Dank“ wieder (Ps 42,5), ein Ausdruck der für das Danklied ebenso stehen kann wie für das Dankopfer.

Zahlreiche Psalmen sind aufgrund ihres Inhalts einzelnen Gruppen zugeordnet, so die Zionspsalmen (u.a. 46; 48), die Jhwh-Königspsalmen (u.a. Ps 93); die Königspsalmen (u.a. Ps 72), die Geschichts- oder die Schöpfungspsalmen. Unter diesen kommt nun vor allem den Weisheitspsalmen bzw. den weisheitlichen Reflexionen, die sich in diversen Psalmen finden lassen, hervorgehobene Bedeutung zu. Sie nehmen das Verhältnis von Gott und Mensch grundlegend in den Blick und ordnen auf diese Weise individuelle Erfahrung in einen größeren Zusammenhang ein (s. Ps 49), bzw. leiten, durch bewusste Platzierung im Gesamtpsalter, zum Gebet an. Die Zuordnung einzelner Psalmen zu den genannten Gattungen gibt Aufschluss über die Funktion und Kommunikationsabsicht des Psalms und ermöglicht es, durch die Identifizierung des Typischen, das Untypische und Besondere in Abweichungen von einer Gattung zu erkennen. Es darf dennoch nicht übersehen werden, dass der Großteil der Psalmen Elemente verschiedener Gattungen aufweist, d.h. u.a., dass sich hymnische Elemente in Klageliedern finden (Ps 74,12ff.) und weisheitliche Reflexionen diverse Psalmen durchziehen (s.u.a. Ps 73). Besonders in dieser Mischung von Reflexionen und direkter Gottesanrede zeigt sich die Bedeutung der Psalmen als Schule des Betens, als Hilfe zur Sprachfindung im Gespräch mit Gott.

3. Datierung

Die Datierung einzelner Psalmen ist ausgesprochen schwierig, da in den Texten an sich altes Traditionsgut wieder aufgenommen und in neue Zusammenhänge gestellt worden ist. In der Regel bemüht man sich, unter Berücksichtigung von Querbezügen zu anderen Überlieferungen des Alten Testaments sowie mittels traditions- und theologiegeschichtlicher Einordnungen um eine Zuordnung der einzelnen Psalmen zu größeren Epochen, d.h. der Königszeit, der exilisch-nachexilischen und der hellenistischen Zeit.

Der Psalter als abgeschlossene Sammlung wird ins 2.Jh.v.Chr. zu datieren sein.

4. Theologie

Die Psalmen befassen sich mit Grundfragen des Lebens, die im Gebet vor Gott gebracht werden. Lebensfreude und Dank finden ebenso ihren Raum wie Leiden, Angst und bedrohliche Todesnähe. Nichts muss im Gebet ausgespart, alles kann vor Gott getragen werden, auch in Klage und Anklage.

Die Gerechtigkeit Gottes wird gepriesen oder eingefordert, wo sie, der eigenen Lebenserfahrung gemäß, nicht zu greifen scheint. Neben der – immer wieder auch konfliktbehafteten – Verhältnisbestimmung von Gott, Individuum und dessen sozialem Umfeld gehört auch die Reflexion über Gott, Mensch und Welt in das Gebet. Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst (Ps 8,5). 

Als herausfordernd werden die sog. Rachepsalmen empfunden (u.a. Ps 94,1–2.22–24). Oft als ethisch nicht vertretbar deklassiert und beiseite geschoben, verdienen sie, so unbequem es auch ist, wenigstens einer kritischen Betrachtung. Gewalterfahrung, Hilflosigkeit angesichts der Feinde und der Schrei nach Veränderung stehen im Hintergrund dieser Texte, die zeigen, dass auch die dunklen Seiten des menschlichen Herzens vor Gott offenliegen. Ob und wie sie in den Gemeindekontext eingebracht und ggf. gebetet werden sollten, ist jedoch stets aufs Neue zu fragen.

5. Rezeption

Die Rezeptionsgeschichte der Psalmen und des Psalters hat in den letzten Jahren immer mehr an Raum gewonnen. Unterschiedliche Auslegungstraditionen, so in jüdischer und christlicher Exegese werden ebenso in den Blick genommen, wie Psalmen und Psalter in darstellender Kunst oder Musik.

Zur Anregung: Gillingham, S., 2008–2022, Psalms through the Centuries, Blackwell Publishing, Vol 1–3.

Literatur:

  • Janowski, B., 22006, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn.
  • Körting, C., 2015, The Psalms - Their Cultic Setting, Forms and Traditions, in: Hebrew Bible / Old Testament Volume III Part 2 The Twentieth Century – From Modernism to Post-Modernism, Göttingen, 531–558.
  • Zenger, E., 2011, Psalmen Auslegungen Band II; 4. Ein Gott der Rache? Feindpsalmen verstehen, Freiburg i. Br., 679–854.

A) Exegese kompakt: Ps 16,(1-4)5–11

1מִכְתָּ֥ם לְדָוִ֑ד שָֽׁמְרֵ֥נִי אֵ֝֗ל כִּֽי־חָסִ֥יתִי בָֽךְ׃ 2אָמַ֣רְתְּ לַֽ֭יהוָה אֲדֹנָ֣י אָ֑תָּה ט֝וֹבָתִ֗י בַּל־עָלֶֽיךָ׃ 3לִ֭קְדוֹשִׁים אֲשֶׁר־בָּאָ֣רֶץ הֵ֑מָּה וְ֝אַדִּירֵ֗י כָּל־חֶפְצִי־בָֽם׃ 4יִרְבּ֥וּ עַצְּבוֹתָם֮ אַחֵ֪ר מָ֫הָ֥רוּ בַּל־אַסִּ֣יךְ נִסְכֵּיהֶ֣ם מִדָּ֑ם וּֽבַל־אֶשָּׂ֥א אֶת־שְׁ֝מוֹתָ֗ם עַל־שְׂפָתָֽי׃ 5יְֽהוָ֗ה מְנָת־חֶלְקִ֥י וְכוֹסִ֑י אַ֝תָּ֗ה תּוֹמִ֥יךְ גּוֹרָלִֽי׃ 6חֲבָלִ֣ים נָֽפְלוּ־לִ֭י בַּנְּעִמִ֑ים אַף־נַ֝חֲלָ֗ת שָֽׁפְרָ֥ה עָלָֽי׃ 7אֲבָרֵ֗ךְ אֶת־יְ֭הוָה אֲשֶׁ֣ר יְעָצָ֑נִי אַף־לֵ֝יל֗וֹת יִסְּר֥וּנִי כִלְיוֹתָֽי׃ 8שִׁוִּ֬יתִי יְהוָ֣ה לְנֶגְדִּ֣י תָמִ֑יד כִּ֥י מִֽ֝ימִינִ֗י בַּל־אֶמּֽוֹט׃ 9לָכֵ֤ן ׀ שָׂמַ֣ח לִ֭בִּי וַיָּ֣גֶל כְּבוֹדִ֑י אַף־בְּ֝שָׂרִ֗י יִשְׁכֹּ֥ן לָבֶֽטַח׃ 10כִּ֤י ׀ לֹא־תַעֲזֹ֣ב נַפְשִׁ֣י לִשְׁא֑וֹל לֹֽא־תִתֵּ֥ן חֲ֝סִידְךָ֗ לִרְא֥וֹת שַֽׁחַת׃ 11תּֽוֹדִיעֵנִי֮ אֹ֤רַח חַ֫יִּ֥ים שֹׂ֣בַע שְׂ֭מָחוֹת אֶת־פָּנֶ֑יךָ נְעִמ֖וֹת בִּימִינְךָ֣ נֶֽצַח׃
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Übersetzung

1 Miktam Davids

Bewahre mich Gott, denn ich berge mich bei dir.

2 Ich spreche zu Jhwh:

Mein Herr bist du,

mein Gutes ist allein bei dir.

3 Was die Heiligen anbetrifft, die sie im Lande sind,

sie sind die Herrlichen, an denen ich meinen Gefallen habe.

4 Zahlreich sind die Schmerzen derjenigen,

die einen anderen (Gott) umworben haben.

Ich will ihre Trankopfer von Blut nicht ausgießen

Und ich setze ihren Namen nicht auf meine Lippen.

5 Jhwh, Maß meines Anteils und meines Bechers;

Du bist der, der mein Los hält.

6 Die Messschnur (pl.) ist für mich aufs glücklichste gefallen (pl.);

ja, mein Erbbesitz gefällt mir wohl.

7 Ich preise Jhwh, der mich beraten hat;

ja, in den Nächten mahnen mich meine Nieren

8 Ich habe Jhwh vor mich gesetzt allezeit;

weil (er) zu meiner Rechten ist, wanke ich nicht.

9 Darum freut sich mein Herz und jubelt meine Ehre;

ja, mein Fleisch wohnt geborgen.

10 Denn du überlässt mein Leben nicht dem Totenreich;

du gibst deinen Frommen nicht preis, dass er die Grube sieht.

11 Du zeigst mir den Weg des Lebens;

Fülle der Freude ist vor deinem Angesicht;

Glück in deiner Rechten für immer.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V. 5 Die Form תומיך (von תמך „halten“) wird in der Regel, mit der LXX und in Abweichung von der Vokalisation, als Part.m.sg. im Qal verstanden und auf das direkt vorausgehende Personalpronomen der 2.m.sg. bezogen.

V. 6 Der MT fügt, entgegen der LXX und der Peschitta, kein Suffix der 1.c.sg an  נחלת (von נחלה „Erbbesitz“) an. Ggf. handelt es sich auch um eine scriptio defectiva (MT) und die 1.c.sg. ist impliziert. Oder aber נחלת wird als seltene Femininform im status absolutus verstanden.

V. 8b Die Partikel כי ist an dieser Stelle kausal „weil“, und nicht, in Übereinstimmung mit der Partikel אף „ja“ der vv. 6, 7 und 9, als deiktische Partikel übersetzt worden. Dass allein hier von einem Muster abgewichen wird, sollte sichtbar werden.

V. 9 כבודי „meine Ehre“ wird in der Vg. mit „gloria mea“ wiedergegeben, die LXX hingegen weicht ab und ordnet dem jubelnden Herzen die jubelnde Zunge (γλῶσσα) zu. Der Apparat der BHS schlägt sogar כבדי „meine Leber“ vor. Doch der כבוד des Menschen als handelndes Subjekt kommt durchaus auch an anderen Stellen vor (s. Ps 3,4; 4,3; 7,6; 57,9). Es ist die von Gott gewährte Teilhabe an seiner eigenen Ehre (s. Ps 8,6), die hier zum Sprechen kommt.

V. 9 und 10 Die LXX weicht in diesen beiden Versen signifikant vom MT ab. In v. 9 heißt es vom Fleisch κατασκηνώσει ἐπ᾿ ἐλπίδι „in Hoffnung (zu) wohnen.“ In v. 10 nimmt die LXX nicht eine Übersetzung von שחת „Grube“ auf, sondern formuliert mit διαφθορά „Vernichtung, Verwesung.“ Anders als der MT eröffnet die LXX mit den Abweichungen in v. 9b und 10a die Perspektive auf eine Auferstehungshoffnung (s. Theologische Perspektivierung).

2. Literarische Gestaltung

Der Psalmist eröffnet sein Gebet in Bitte und Vertrauen, direkt gerichtet an Jhwh, „mein Herr“ und „mein Glück“ allein (vv. 1b–2). Diese Grundlegung wird in den zu besprechenden vv. 5–11 ausgelegt. Die vv. 3–4 hingegen stellen das vertrauende Ich des Beters auf die Seite der Jhwh-Frommen und in einen Kontrast zu den Götzen und deren Dienern, von denen er sich deutlich abgrenzen will.

Psalm 16,5–11 ist in vier kleinere Abschnitte zu unterteilen, die über die gewählten semantischen Felder zusammengehalten werden. Jeder Abschnitt beleuchtet unter einem anderen Schwerpunkt die Gottesbeziehung des Beters (vv. 5–6 als Anteilhabe an Gott; vv. 7–8 hinsichtlich der Lebensführung; vv. 9–10 als Lebensfreude und -fülle). V. 11 fasst alles zusammen: Leben, Freude und Glück sind bei Gott.

3. (Literarischer) Kontext

Psalm 16 ist Teil der Psalmengruppe 15–24. Gerechtigkeit des Einzelnen und rettendes Eingreifen Gottes bilden die thematischen Schwerpunkte der Sammlung. Gott, gegenwärtig in seinem Tempel, ist das Thema der die Sammlung rahmenden Psalmen Ps 15 und 24 und ist auch für weitere Psalmen der entscheidende Bezugspunkt (Ps 16,11; 17,15; 18,7; 23,6). In dieser Schwerpunktsetzung unterscheidet sich die Rede vom Guten und vom Glück von Zugängen der Weisheitstexte, denn hier ist sie dezidiert tempeltheologisch aufgegriffen ( Lindström [2020], 19).

4. Schwerpunkte der Interpretation

Der Psalm zeichnet sich durch den Rückgriff auf eine reiche Bildwelt aus, die sich dem Leser und der Leserin heute nicht unmittelbar erschließt. Die vv. 5-6 beschreiben mittels der Termini „Maß meines Anteils,“ „Los,“ „Messschnur“ und „Erbe“ die Gottesbeziehung des Beters. Die Begriffe gehören in den Kontext der Landverteilung und -vermessung sowie der dauerhaften Zuordnung von Lebensraum. Vor diesem Hintergrund kann Jhwh selbst als Anteil seines Volkes beschrieben werden (vgl. Jer 10,16). Besonders deutlich ist dies in Ps 142,6. Jhwh wird bekannt als Anteil im Land der Lebenden (vgl. Thr 3,24). Die gewählten Begriffe in Ps 16 greifen das Thema Landzuteilung in metaphorischer Rede auf und beschreiben auf diese Weise bleibende Gottesgemeinschaft. Während das von Gott gegebene Land üblicherweise der Raum ist, in dem Gottesgemeinschaft gelebt wird, wird Gott selbst zum Landanteil und damit zum Lebensraum. Das Motiv des Bechers mag sich in diesen Zusammenhang wenig einfügen, doch zwei Bezüge sollen helfen. Ps 23,6 kennt das Bechermotiv als Ausdruck für Lebensfülle, das den umschriebenen Lebensraum näher charakterisiert. Ps 11,6 entwirft hingegen ein Gegenbild, nämlich den zerstörerischen Glutwind als Becheranteil. Doch hier, in Ps 16,5, ist der Becheranteil Jhwh selbst, und d.h. Lebensfülle und Bewahrung für den Beter.

7-8 Zur Gestaltung des Lebens gehört es, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dazu berät Jhwh das betende Ich. Die Nieren vermögen zu mahnen, denn sie stehen für das Innerste des Menschen. Hier werden Konflikte zwischen Mensch und Gott ausgetragen (Hi 16,12f.; Pred 3,13; Ps 73,21f.); ihr Geschaffen-sein wird besonders betont (Ps 139,11–15); sie sind Ort des Einwirkens Gottes (u.a. Jer 11,20; 12,3; 17,10; Ps 7,10; 26,2). Das geschieht nicht passiv. Der Beter hat Jhwh vor sich gesetzt, allzeit. Jhwh ist sein Fixpunkt, seine Orientierung.

9-10 Die Erfahrung guten und glücklichen Lebens kann der Beter nur mit übersprudelnder Freude und Dankbarkeit beantworten. Er tut dies mit seinem ganzen Herzen, d.h. mit Denken und Fühlen. Den Bildern von Lebensraum (vv. 5-6) (und Lebensgestaltung [vv. 7-8]) steht in v. 10 die Rede von Totenreich und Grube gegenüber. Totenreich und Grube, Räume des Todes, haben das Potential sich auszudehnen, in den Bereich des Lebens hineinzugreifen und den Menschen zu sich hinunterzuziehen (vgl. Ps 18,5–6). Lebensminderung in vielerlei Form wie Krankheit, Krieg, Schuld oder Hass stehen für Erfahrungen des Todes im Leben. Die Gottesgegenwart gibt diesem Ausgreifen des Totenreiches in das Leben des Beters keine Chance; und so wohnt auch sein Fleisch, d.h. sein Körper sicher (v. 9b). Mit diesen Aussagen ist für den Beter der physische Tod nicht aufgehoben, aber das Leben im Diesseits erhält in der dauerhaften Gottesgemeinschaft eine gänzliche neue Qualität. Der Weg seines Lebens ist einer, der, ohne Bedrohung durch die Mächte des Todes, geprägt ist von Freude in Fülle und Glück.

Die Sprache des Psalms regt jedoch zugleich dazu an weiterzudenken. Und in späterer Zeit wird das Vertrauen auf eine Gottesgemeinschaft, die über den Tod hinaus besteht (so in Ps 73,26a) deutlich formuliert; eine Gottesgemeinschaft, die in spätvorexilischer Zeit so noch nicht bekannt wurde (vgl. Ps 88).

5. Theologische Perspektivierung

Was macht Lebensglück, mit dem Ps 16 schließt, eigentlich aus? Der Psalm singt von Vertrauen statt Angst, gerade auch angesichts der Fragilität des Lebens. Dieser Angst steht kein Raum zu, sie darf sich nicht ausweiten, nicht nach dem betenden Ich greifen.  

Natürlich kann Ps 16,10, mit Rückgriff auf die Rezeption (u.a. Apg 2,25‑3; 13, 34‑37), im Sinne einer Auferstehungshoffnung ausgelegt werden. Doch es lohnt sich, diesen Gedanken einmal hintanzustellen und den Psalm als Ausdruck höchster diesseitiger Lebensfreude und größten Glückes zu verstehen. Es ist eine Lebensfreude, die in der Gewissheit gründet, dass die wichtigste Gabe an den Beter Gott selbst ist, seine Nähe, seine Leitung. Andere Psalmen der Gruppe verweisen auf den Weg durch das dunkle Tal (Ps 23,4), auf die Erfahrung von Gewalt (Ps 17,9–12), auf Krankheit und Schwäche (Ps 22,15–18). Das mag lebensnäher klingen als Ps 16 es formuliert. Doch es zeichnet Ps 16 aus, dass er zeigt, wie es sein sollte. Er vertröstet nicht auf Zukunft hin. Und so schaut das betende Ich auf Gott, der ein Leben in seiner Nähe zusagt, ein Leben der übergroßen Freude und des Glückes.

Literatur

  • Liess, Kathrin. 2004. Der Weg des Lebens. Psalm 16 und das Lebens- und Todesverständnis der Individualpsalmen. FAT II 5. Tübingen: Mohr Siebeck.
  • Lindström, Fredrik. 2020. „The Path of Life – for the Wise Only? On Psalm 16 and How to Avoid Sheol Below.“ in: Fromme und Frevler. Studien zu Psalmen und Weisheit. FS für H. Spieckermann, hrsg. von Corinna Körting und Reinhard Gregor Kratz, 19–30. Tübingen: Mohr Siebeck.
  • Spieckermann, Hermann. 2023. Psalmen Band 1: Psalm 1-49. ATD 14. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Exegese hilft mir zunächst für die Entscheidung der Textauswahl. Es ist gut, die vv. 1–4 als Grundlage zu verstehen und im Hinterkopf für die Predigtarbeit zu haben, sich als Predigttext für Lesung und Auslegung aber ausschließlich auf die vv. 5–11 zu fokussieren. Der Beter weiß sich allein in Jhwh geborgen und auf der Seite der Seinen. Das Glück dieser persönlichen, ausschließlichen Beziehung wird im Folgenden bildreich ausgelegt und bekommt lebenswichtige, ja überlebenswichtige Bedeutung.

Der Psalm 16, insbesondere in der Lutherübersetzung, war mir bisher vor allem aufgrund seiner vertrauensvollen, positiven Atmosphäre und der buchstäblichen Fülle der schönen Worte vertraut. Im Evangelischen Gesangbuch kommt er leider nicht vor. Lediglich v. 11 hat vermutlich noch einen gewissen Bekanntheitsgrad.

Durch die Exegese treten nun auch die ungewöhnlichen und nicht leicht zugänglichen Bildworte hervor und gewinnen an Bedeutung. Im Kontext von Landvermessung und Landverteilung bzw. -zuteilung leuchtet unmittelbar ein, was gemeint ist: Inniger und unauflöslicher kann die Beziehung zwischen Gott und Mensch nicht sein, als dass Gott selbst zum Anteil und dauerhaft zugeteiltem Lebensraum wird.

Überraschend erhalten die vv. 5–11 durch die Übersetzung und Exegese eine Struktur: Gleich dreimal setzt der Beter auf unterschiedliche Weise seine Gottesbeziehung ins Bild und fasst die überbordende Fülle und Lebensfreude, die dadurch entsteht, abschließend zusammen.

Wichtig wird auch ein Aspekt aus dem literarischen Kontext: Obwohl die Gottesbeziehung hier höchst persönlich, individuell, ja mit ihren Bildern des zu Herzen, Nieren, ins Fleisch und an die Ehre Gehenden geradezu intim ihren Ausdruck findet, ist der Tempel der Ort, an dem Jhwhs Angesicht wohnt und seine Gegenwart und Führung gefeiert werden. Persönliche Gottesbeziehung und gottesdienstliche Feier kommen hier zusammen.

Schließlich setzt sich die theologische Perspektivierung von dem ab, was die Rezeption an Deutung nahelegt und aufgrund von v. 10 bisher bei mir abgespeichert war, nämlich dass wir es hier mit ersten Andeutungen einer Hoffnung auf Auferstehung zu tun haben. Den Psalm mutig als Ausdruck höchster diesseitiger Lebensfreude auszulegen, ist Anregung und Anforderung zugleich.

Um der Anforderung zu begegnen, braucht es die Hinweise auf das Ringen zwischen Gott und Mensch (Interpretation zu vv. 7-8) und die Einbettung des Psalms in den Kontext der Psalmengruppe zur Gerechtigkeit des Einzelnen und dem rettenden Eingreifen Gottes. Das Leben der Heiligen ist nicht unablässig eitel Sonnenschein, doch vor Gottes Angesicht ist Freude die Fülle und bleibendes Leben.

2. Thematische Fokussierung

Der Beter richtet sein Vertrauen, seine Freude und sein Glück an den Urheber all dessen. Die Beziehung ist außerordentlich und exklusiv. An keiner Stelle findet sich eine Einladung oder gar Aufforderung teilzuhaben oder einzustimmen.

Die intensive Beziehung zu Jhwh ist vorausgesetzt. Wie es zu dieser kam und warum es so ist, erfahren wir nicht. Es könnte auch anders sein. Der Psalmist setzt sich überdeutlich von denen ab, die eine andere Entscheidung getroffen haben und nun deren Konsequenzen erleiden.

Auf welche Weise also dient das persönliche Gebet des Psalmisten denen, die es wahrnehmen über Raum und Zeit hinweg? Je persönlicher und tiefer sich das Gebet erschließt, desto mehr entsteht bei mir zunächst das Bedürfnis, auf Distanz zu gehen und den Beter nicht vorschnell als leuchtendes Vorbild dazustellen und zur Identifizierung mit ihm einzuladen.

Indem der Psalmist Einblick gewährt in das, was sein Leben erfüllt, sicher und glücklich macht, letztlich also in das, was sein Leben ausmacht, schlicht in das, was sein Leben ist, erfahren wir in Anlehnung an die Abschnitte des Textes seine Antworten auf die Fragen:

Wie ist das (bei mir), mit Gott zu sein?

Wie geht das (bei mir), mit Gott unterwegs zu sein?

Was bedeutet es (für mich), mit Gott zu leben?

Die Predigt kann diesen Fragen und Antworten Raum geben. Ob die einzelnen Predigthörenden sich darin wiedererkennen, daran stören, angeregt werden, den Weg mit Gott zu wagen und sich letztlich einladen lassen, die Lebensfreude und -fülle vor Gottes Angesicht gemeinsam zu feiern, bleibt in Gebet und Lied zu erbitten.

3. Theologische Aktualisierung

Der Beter ist sich so sicher, er weiß sich geborgen, beraten, gestützt. Bestätigend selbstsicher betont das jeweilige Ja! in den vv. 6, 7 und 9 das Glück, die Richtigkeit der Entscheidungen und den Grund der Freude.

Der Raum, der Gott selbst ist und in dem sich der Gottesfürchtige befindet, ist so geschützt und stark, dass die raumgreifenden feindlichen Mächte des Todes keine Chance haben, den mit Gottes Nähe erfüllten Lebensraum zu schmälern oder in ihn einzudringen. Das kommt vollmundig daher und mag angesichts der aktuellen persönlichen Situation mancher Gottesdienstbesucherinnen und -besucher und der politischen, gesellschaftlichen Lage im September 2024 zynisch klingen. Es ist faktisch nicht so, dass die Frommen vor Krankheit, persönlichen Anfeindungen, Krieg und Tod geschützt sind und diejenigen, die unter lebensfeindlichen Angriffen leiden, einen anderen Gott umworben hätten, nicht fest genug glaubten oder einfach das Pech hatten, dass die Messschnur für sie nicht aufs Glücklichste gefallen ist.

Die Antworten des Psalmbeters haben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Selbstverständlichkeit. Überraschend beschenkt erkennt der eine, dass Gott selbst ihm zum Erbe geworden ist. Dankbar greife ich den Hinweis auf, dass in den Nieren Konflikte zwischen Gott und Mensch ausgetragen werden. Entscheidungen liegen nicht im Lichte des Tages auf der Hand, sondern müssen im nächtlichen Kampf oftmals errungen werden. Ich, Mensch, bin aktiv beteiligt, denn ich setze Gott vor mich und entscheide damit, wer mich beraten, mir zur Seite stehen darf. Darum (!), so der Hinweis zu v. 8b, wanke ich nicht. An dieser Stelle öffnet sich der Raum gut für die einzelnen auch heute, mit ihren persönlichen Erfahrungen eintreten zu können.

Die Erfahrungen sind so unterschiedlich wie die der verschiedenen Psalmen in der Gruppe. Dieser Aspekt aus der Exegese erweist sich als besonders hilfreich. Das Wandern im dunklen Tal, Gewalterfahrungen, Krankheit und Tod gehören auch dazu. Aber nicht immer muss alles gesagt und bewogen werden. Hier hat einer erlebt, dass Leben in und mit Gott tatsächlich ein Bollwerk ist und alles auszuschließen vermag, was dagegenspricht. In Gottes Nähe erweist sich das Leben um ein Vielfaches stärker als der Tod. Vor seinem Angesicht werde ich gewahr, wie glücklich ich bin – in der Gegenwart! Da mag ich fröhlich Amen sagen und weiteres für ein anderes Mal aufheben.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Der 16. Sonntag nach Trinitatis feiert 24 Wochen (ein halbes Sonnenjahr) nach dem Osterfest erneut die Auferstehung. Die Texte und Lieder erzählen von Totenauferweckungen und verweisen auf Jesus Christus, der dem Tod die Macht genommen und das Leben ans Licht gebracht hat. Dahinter bleibt die Predigt zu Psalm 16 in der durch die Exegese aufgenommenen Weise nicht zurück. Das Ostergeschehen will mitnichten ausschließlich die Hoffnung auf die Auferstehung nach dem Tode wecken und wachhalten. Sie weist zurück in das diesseitige Leben und die Möglichkeit, schon jetzt so zu leben, dass der Tod seine Macht eingebüßt hat und gegen Gottes bleibende Nähe nicht ankommt.

Autoren

  • Prof. Dr. Corinna Körting (Einführung und Exegese)
  • Daniela Fricke (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500061

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