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3. Mose 19,1-3.13-18.33-34 | 13. Sonntag nach Trinitatis | 25.08.2024

Einführung in das 3. Buch Mose

1. Endgestalt des Buches

Feste sind große Gemeinschaftserlebnisse. Viele Familien, Verwandte, Freunde und Bekannte kommen zusammen, um in der Gemeinschaft Gott zu loben und zu danken, gemeinsam ein großes Opfermahl zu verzehren und sich in Gebet und Segen des Beistands Gottes im Frühjahrsfest zu Pesach, im Erntefest an Schavuot (Pfingsten) und beim Laubhüttenfest im Herbst zu vergewissern. Das Buch Leviticus enthält priesterliche Lehren für die Religions- und Fest-Gemeinde Israels. Die Endgestalt des Buches geht auf die priesterliche Unterteilung der Tora in fünf Buchrollen im 4./3. Jh. v. Chr. zurück, welche es auf die Offenbarungsreden Jhwhs an Mose im Zelt der Begegnung unterhalb des Gottesberges im Sinai zurückführen (Lev 1,1; 26,46) und auf die mündlichen Offenbarungen auf dem Berge (Lev 27,34). In der LXX und der christlichen Überlieferung wird dieser Teil der Tora besonders mit den Lehren der Priester-Tora in Verbindung gebracht und darum nach dem Ahnvater des Priesterstammes Levi „Leviticus“ genannt.

2. Entstehung und Themenschwerpunkte

Seine Entstehung lässt sich in mehrere Phasen und damit verbundene wechselnde Themenschwerpunkte unterteilen. 2.1. Die ältesten Erzählungen im dritten Teil der Tora gehen zurück auf die Legende der Begründung der Kultusgemeinschaft mit JHWH aus der Priesterschrift: Gott verspricht, künftig als der Gott Israels in der Mitte des Volkes für immer gegenwärtig zu sein. Aaron bringt das erste Opfer dar und Gott nimmt es an (Lev 8-9*). Gemeinsam mit den Erzählungen der Deuteronomisten vom Bundesschluss am Gottesberg (Ex 19–24; 32; 34) und in Moab (Dtn 1–30*; 34) bildete diese Erzählung den Grundstock der frühen Narrative des Zweiten Tempels. 2.2. Erst langsam entwickelte sich nach dem Babylonischen Exil im 5.Jh.v.Chr. in Jerusalem und seinem Umkreis die politische und religiöse Gesellschaft Judas. Die kleine Provinz Jehud (Juda) stand unter der Herrschaft der Perser, deren Imperium von Indien bis nach Griechenland und vom Kaukasus bis in den Süden Ägyptens reichte, und sie gelangte nur langsam zu einer neuen Blüte. Nachdem in der Nachbarprovinz im alten israelitischen Samaria um 452 v. Chr. ein zweiter Tempel entstanden war, dem die Jerusalemer Priester vorwarfen, gegen Gottes Gebote zu verstoßen und auch fremde religiöse Praktiken zuzulassen, war man in Jerusalem zunehmend darauf bedacht, dass hier die Regeln der Heiligung Israels besonders ernst genommen werden sollten. Es kam zu einer Erweiterung des priesterschriftlichen Narrativs. In Lev 10 wird erzählt, die beiden ältesten Söhne Aarons hätten das heilige Feuer JHWHs durch fremdes Feuer verunreinigt und seien infolgedessen verbrannt. In Lev 16 folgt darauf die Erzählung von der Einrichtung eines jährlichen Reinigungs- und Sühnerituals an der Lade JHWHs am Tag der Versöhnung, Jom Kippur. 2.3. Hieran schließt sich die als „Heiligkeitsgesetz“ bezeichnete Sammlung an, welche die Gebote des Deuteronomiums, nach welchen Israel seinen Kultus allein für JHWH allein an einem Kultort vollziehen soll, noch einmal vertieft und radikalisiert wird. Israel Knohl führt es sie auf eine Gruppe Jerusalemer Schriftgelehrter zurück, die er „Holiness-School“ nennt. Das Volk, das im Umkreis des Heiligtums lebt, soll hiernach selbst ein heiliges Volk sein und die Regeln der Heiligkeit in besonderer Weise befolgen (Lev 19,2). Außerhalb des Heiligtums sollen überhaupt keine Tiere mehr geschlachtet und verzehrt werden (Lev 17). Israel ist das von aller Sklaverei durch Gott befreite Volk, darum soll es sich in seiner Lebensweise deutlich erkennbar von anderen Völkern unterscheiden (Lev 18,1–5). Dazu gehört auch, dass es in seinen Beziehungen alle Formen sexueller Übergriffigkeit und Gewalt meidet (Lev 18,6–30). In Lev 19 werden die Grundsätze eines Heiligen Lebens anhand des Dekalogs neu ausgelegt. Heiliges Leben fängt in der Solidarität der Familie an (Lev 19,3a). Das Einhalten der heiligen Tage dient nicht allein der Gemeinschaft und dem Gottesdienst, sondern auch der Fürsorge für die sozial Benachteiligten und Armen (Lev 19,3b.4–10); die Regeln des Rechts werden zu ethischen Grundsätzen solidarischen Lebens weiterentwickelt (v. 12–18). Lev 20 schärft ein, dass zahlreiche Vergehen gegen Mensch und Natur lebensbedrohlich sind und warnt darum im Sinne einer Generalprävention durch die Todessanktion vor der Übertretung der Gesetze. Die Regeln der Gottesdienstgemeinschaft und ihrer kultischen Feste (Lev 21–24) haben auch Folgen für die politische und soziale Gemeinschaft: Alles Land gehört Gott und alle Menschen sind Gäste, Fremde und Schutzbürger Gottes auf Erden (Lev 25,23–24). Darum muss regelmäßig nach 7x7 Jahren eine neue, am Sabbat orientierte Gerechtigkeitsordnung hergestellt werden, in der alle Menschen der Gesellschaft die gleichen ihnen zustehenden Lebensgrundlagen erhalten. Im fünfzigsten Jahr erschallt das Jobel-Horn, und es wird ein Jobeljahr („Jubeljahr“) ausgerufen. Alle Schulden sind erlassen, und alle erhalten wieder neu ein Stück Land, das ihnen zusteht (Lev 25). Der Sabbat, der Tag, an dem die Schöpfung ruht und ihren ökologischen und ökonomischen Rhythmus findet, ist der Maßstab für Segen und Fluch. Wird er vernachlässigt, so muss das Land seine Sabbate nachholen und die Schöpfung die Gelegenheit haben sich zu erneuern (Lev 25,34–35). 2.4. Diese an Mose am „Zelt der Begegnung“ ergangenen Gebote werden in einer späteren Phase, in der die Tora vollendet wird, noch ergänzt durch priesterliche Torot (Anweisungen) für die Opferdarbringung (Lev 1–7) und vor allem durch die bis heute für das Judentum zentralen Gebote der Achtung vor dem Leben. Weil das Blut als Träger des Lebens gilt, darf auch beim Verzehr von Tieren kein Blut verzehrt werden (Lev 11). Männer und Frauen sollen im sexuellen Umgang miteinander achtsam sein und Verletzungen, Blutberührungen und Verunreinigungen meiden (Lev 12; 15). Auch im Falle infektiöser Erkrankungen soll Rücksicht walten, und es müssen darum ggf. Regeln der Quarantäne und besonderer medizinischer und ritueller Reinigung eingehalten werden (Lev 13–14).

3. Historische Kontexte

Die historischen Kontexte dieser Fortschreibungsgeschichte werden vor allem durch die Entwicklung der Jerusalemer und der judäischen Rechts- und Kultusgemeinde im Umkreis des Zweiten Tempels nach Esra im 4. Jh. v. Chr. geprägt, in der die führende Priesterschaft zunehmend an Einfluss gewinnt. Die Religion und das Gottesverhältnis Israels ist somit nicht allein geprägt durch die Traditionen eines aus dem Recht ausdifferenzierten Ethos der Gesetze und Propheten, sondern auch aus dem durch die kultische Festgemeinschaft und das Gottesdiensterleben geprägten Ethos der Heiligung und der Bewahrung der Schöpfung, aus dem heraus wichtige Motivationen für das Alltagsleben gewonnen werden.

4. Wichtige Themen

Die Themen der Schrift werden durch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem gottesdienstlichen, kultischen Leben und der Heiligung des Alltagslebens bestimmt (s. zu 2.).

5. Besonderheiten

Eine Besonderheit besteht im Gedanken einer untrennbaren Einheit von einem durch den Gedanken der Heiligung und der Reinheit der Lebensführung bestimmten Alltag mit den Prinzipien einer ökologischen und sozialen Sabbatordnung, die allen Menschen die ihnen zustehenden notwendigen Lebensgrundlagen und Rechte zuerkennt. Die Erde ist eine Leihgabe Gottes und allen Menschen, den verwandten und den fremden Nächsten, gebührt das gleiche Recht der Nächstenliebe.

Literatur:

  • Thomas Hieke, Levitikus (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament, 2 Bände), Freiburg i.B. – Basel – Wien (Herder) 2014.
  • Rainer Kessler, Der Weg zum Leben. Ethik des Alten Testaments, Gütersloh (Gütersloher Verlagshaus) 22017.
  • Israel Knohl, The Sanctuary of Silence: The Priestly Torah and the Holiness School, Minneapolis MN (Fortress Press) 1994.
  • Christophe Nihan, From Priestly Torah to Pentateuch. A Study in the Composition of the Book of Leviticus (Forschungen zum Alten Testament II/25), Tübingen (Mohr Siebeck) 2007.
  • Dany Nocquet, Israël a aimé ses ennemis. Bienveillance et reconnaissance dans l’Ancien Testament, Genf (Labor et Fides) 2023.

A) Exegese kompakt: 3. Mose 19,1–3.13–18.33–34

Lev 19 bildet eine Auslegung von Sätzen des Dekalogs, die geleitet sind von der Frage: Wie müsste ein heiliges Leben mit Gott aussehen? Woran kann man eigentlich erkennen, ob Menschen, welche an den Gottesdiensten im Tempel teilnehmen, auch in ihrem Alltag nach den Regeln und Geboten Gottes leben? Was macht ein Leben mit Gott aus?

1וַיְדַבֵּ֥ר יְהוָ֖ה אֶל־מֹשֶׁ֥ה לֵּאמֹֽר׃ 2דַּבֵּ֞ר אֶל־כָּל־עֲדַ֧ת בְּנֵי־יִשְׂרָאֵ֛ל וְאָמַרְתָּ֥ אֲלֵהֶ֖ם קְדֹשִׁ֣ים תִּהְי֑וּ כִּ֣י קָד֔וֹשׁ אֲנִ֖י יְהוָ֥ה אֱלֹהֵיכֶֽם׃ 3אִ֣ישׁ אִמּ֤וֹ וְאָבִיו֙ תִּירָ֔אוּ וְאֶת־שַׁבְּתֹתַ֖י תִּשְׁמֹ֑רוּ אֲנִ֖י יְהוָ֥ה אֱלֹהֵיכֶֽם׃

Leviticus 19:1-3BHSBibelstelle anzeigen

13לֹֽא־תַעֲשֹׁ֥ק אֶת־רֵֽעֲךָ֖ וְלֹ֣א תִגְזֹ֑ל לֹֽא־תָלִ֞ין פְּעֻלַּ֥ת שָׂכִ֛יר אִתְּךָ֖ עַד־בֹּֽקֶר׃ 14לֹא־תְקַלֵּ֣ל חֵרֵ֔שׁ וְלִפְנֵ֣י עִוֵּ֔ר לֹ֥א תִתֵּ֖ן מִכְשֹׁ֑ל וְיָרֵ֥אתָ מֵּאֱלֹהֶ֖יךָ אֲנִ֥י יְהוָֽה׃ 15לֹא־תַעֲשׂ֥וּ עָ֨וֶל֙ בַּמִּשְׁפָּ֔ט לֹא־תִשָּׂ֣א פְנֵי־דָ֔ל וְלֹ֥א תֶהְדַּ֖ר פְּנֵ֣י גָד֑וֹל בְּצֶ֖דֶק תִּשְׁפֹּ֥ט עֲמִיתֶֽךָ׃ 16לֹא־תֵלֵ֤ךְ רָכִיל֙ בְּעַמֶּ֔יךָ לֹ֥א תַעֲמֹ֖ד עַל־דַּ֣ם רֵעֶ֑ךָ אֲנִ֖י יְהוָֽה׃ 17לֹֽא־תִשְׂנָ֥א אֶת־אָחִ֖יךָ בִּלְבָבֶ֑ךָ הוֹכֵ֤חַ תּוֹכִ֨יחַ֙ אֶת־עֲמִיתֶ֔ךָ וְלֹא־תִשָּׂ֥א עָלָ֖יו חֵֽטְא׃ 18לֹֽא־תִקֹּ֤ם וְלֹֽא־תִטֹּר֙ אֶת־בְּנֵ֣י עַמֶּ֔ךָ וְאָֽהַבְתָּ֥ לְרֵעֲךָ֖ כָּמ֑וֹךָ אֲנִ֖י יְהוָֽה׃

Leviticus 19:13-18BHSBibelstelle anzeigen

33וְכִֽי־יָג֧וּר אִתְּךָ֛ גֵּ֖ר בְּאַרְצְכֶ֑ם לֹ֥א תוֹנ֖וּ אֹתֽוֹ׃ 34כְּאֶזְרָ֣ח מִכֶּם֩ יִהְיֶ֨ה לָכֶ֜ם הַגֵּ֣ר ׀ הַגָּ֣ר אִתְּכֶ֗ם וְאָהַבְתָּ֥ לוֹ֙ כָּמ֔וֹךָ כִּֽי־גֵרִ֥ים הֱיִיתֶ֖ם בְּאֶ֣רֶץ מִצְרָ֑יִם אֲנִ֖י יְהוָ֥ה אֱלֹהֵיכֶֽם׃

Leviticus 19:33-34BHSBibelstelle anzeigen

Übersetzung

Die Übersetzung bietet anstelle einer wortwörtlichen Wiedergabe z.T. eine Umschreibung der in diesem Text verwendeten Begriffe, um ihren Sinn für moderne Rezipienten zu erschließen.

1 Und es redete der Herr zu Mose und sagte: 2 Rede zu der ganzen Kultusgemeinde der Israeliten und sage ihnen: IHR sollt heilig sein, denn ich selbst, der Herr, euer Gott, bin heilig. 3 Jeder von euch soll seiner Mutter und seinem Vater mit Respekt begegnen, und meine Sabbate sollt ihr beachten: Ich bin der Herr, euer Gott!

13 Du sollst deinen Nächsten nicht unterdrücken und du sollst nicht ausbeuterisch handeln. Du sollst den Arbeitslohn eines Tagelöhners nicht bei dir behalten bis zum nächsten Morgen. 14 Du sollst nicht Schmähreden führen gegenüber einem gehörlosen Menschen, und du sollst nicht ein Hindernis errichten vor einem Blinden, sondern du sollst Ehrfurcht haben vor deinem Gott: Ich bin der Herr! 15 Ihr sollt nicht Unredlichkeiten begehen im Gerichtsverfahren. Du sollst nicht bevorzugen den Menschen mit einem geringen sozialen Status und auch nicht den Menschen mit einem höheren sozialen Status absichtlich benachteiligen. Nach dem Grundsatz der Gerechtigkeit sollst du Recht sprechen für die Gemeinschaft deines Volkes. 16 Du sollst nicht umhergehen als einer, der nach eigenem Gutdünken üble Nachrede verbreitet, unter deinem Volk. Du sollst auch nicht vor Gericht gehen, um das Blut deines Nächsten zu vergießen. Ich bin der Herr.  17 Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen! Du sollst entschieden für das, was richtig und recht ist, eintreten in der Gemeinschaft deines Volkes, damit du nicht Schuld auf dich lädst seinetwegen. 18 Du sollst dich nicht rächen, und du sollst nicht aus Groll handeln über deine Mitmenschen, sondern du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr.

33 Und wenn ein Fremdling (ein Migrant) in eurem Land als Schutzbürger wohnt, dann sollt ihr ihn nicht diskriminieren: 34 Wie ein Einheimischer so soll für euch auch der Fremdling gelten, der bei euch als Schutzbürger ist, und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid selbst einmal Fremdlinge gewesen im Land Ägypten. Ich bin der Herr, euer Gott!

1. Kontext

Der Text ist Teil des sog. „Heiligkeitsgesetzes“. Es ist ein priesterliches Regelwerk für Menschen, die zur Zeit des Zweiten Tempels nahe im Umkreis des Jerusalemer Heiligtums leben. Dieses enthält im ersten Teil Grundprinzipien einer achtsamen Lebensführung (Lev 17: Verbot von Blutgenuss als Zeichen der Ehrfurcht vor dem Leben; Lev 18: Verbot von Übergriffigkeit und Gewalt; Lev 19: Eine Auslegung der Zehn Gebote; Lev 20: Verbot und Strafen für schwere Vergehen) und im zweiten Teil Anweisungen für die Gemeinschaft der Israeliten im Gottesdienst (Lev 21: Anweisungen für Priester; 22 Anweisungen für den Umgang mit Opfergaben; Lev 23: ein Festkalender; Lev 24: Regeln für die Menora, den heiligen Leuchter, und die heiligen Brote; Verbot der Gotteslästerung) und schließlich Regeln für das soziale Leben nach den Prinzipien des Sabbat (Lev 25) und eine Ermahnung, die Segen für das heilige Leben und Fluch für das unheilige Leben ankündet (Lev 26).

2. Entstehung

Der Text ist entstanden als eine Sammlung priesterlicher, schriftgelehrter Auslegungen zum Dekalog (vgl. 19,3: Ex 20,12;8–11; v.13: Ex 22,20-25; Dtn 15,1–11; v. 15: Ex 23,1–9; v.17: Ex 23,4–5; Dtn 22,1–4; v. 33: Ex 22,20; v. 34: Ex 12,48; Dtn 23,8). Alle Gebote erinnern an dessen grundlegende Einleitung: „Ich bin Jhwh!“ – der Israel in die Freiheit vor aller Sklaverei geführt hat. Grundlage aller Gebote ist das Anliegen, diese Freiheit zu bewahren. Denn nur in dieser Freiheit kann das Heilige sein Leben entfalten.

3. Hintergrund

Im Hintergrund steht die religiöse Vorstellung von der Besonderheit eines heiligen Lebens. (V. 1–2) Heilig ist alles, was untrennbar mit Gott verbunden ist und zusammengehört. Der Gedanke einer besonderen Gottesgemeinschaft der Israeliten bestimmt die Katechese. Israel ist als Religionsgemeinde zugleich auch sozial und politisch verantwortlich handelnde Rechtsgemeinde. Das heilige Leben im Raum der Kultusgemeinde (hebr. ‘edah, gr. synagoge) führt dazu, dass aus der Rechtsordnung ein Ethos gewonnen wird, welches Ausdruck der Lebensordnungen und Lebensformen des Gottesvolkes sein soll. Darum ist die ganze Rechtsauslegung als eine durch Mose vermittelte Rede Gottes selbst an das Volk aufgeschrieben worden. Über allen Aspekten des folgenden Textes wird die grundlegende Präambel des Dekalogs ins Gedächtnis gerufen: Ich bin Jhwh, dein Gott! An der Stelle des Wortes „Herr“ steht ja immer das Geheimnis des wahren Namens und Wesens Gottes selbst, der da Leben ermöglicht (hebr. „Er lässt werden“). Er hat durch die Befreiung aus der Sklaverei eine Rechtsordnung begründet, die auf Freiheit beruht. Sein heiliges Wesen, das Wesen des befreienden Gottes (Ex 6,2–8 – Priesterschrift!) bildet Mitte und Orientierung für alle Lebensordnungen der Gemeinde.

(V. 3) Die Mütter und Väter dieser Gemeinschaft übermitteln von Generation zu Generation diese von Gott empfangenen Lebensordnungen. Darum bildet die Solidarität der Generationen nicht allein die Grundlage der sozialen Sicherung, sondern auch der geistig religiösen Orientierung. Diese besteht – nach Lehre des Heiligkeitsgesetzes – in erster Linie in der Achtung der Sabbate, also der Ruhe, in welcher die Gesetze der Schöpfung unbeeinträchtigt durch ökonomische Nutzungsinteressen immer wieder in ihre ökologische natürliche Balance gelangen sollen.

(V. 13–14) Die Beachtung dieser Balance hat Folgen für die Wirtschafts- und Sozialethik: Ausbeutung, Unterdrückung und Habgier müssen immer wieder ausgeschlossen werden. Menschen mit Einschränkungen dürfen nicht benachteiligt werden (v. 14)!

(V. 15–18) Sie hat Folgen für die Rechtskultur und Rechtsfindung vor Gericht. Gerichtsverfahren sind freizuhalten von Korruption und ideologischer Beeinflussung oder von Instrumentalisierung durch Interessen von Oligarchen. Sie müssen am Gemeinwohl orientiert sein. Aus dem Prozessrecht wird auch das Ethos einer geschwisterlichen Solidargesellschaft entwickelt. Die Mitglieder der Gesellschaft werden – so hat es das Deuteronomium gelehrt – unter dem Ethos der Brüderlichkeit bzw. Geschwisterlichkeit einander gleichgestellt (v.17a). Die Rechtsfindung dient nicht der Befriedigung von Einzelinteressen oder gar dem Hass, der sich aus Konkurrenzen und zahllosen sozialen Konflikten entwickeln kann, sondern der gemeinschaftlichen Rechtsfindung und dem Interessenausgleich (v.17b). Der Gedanke des einen Volkes (hebr. ‘amm) wird ausgedehnt auf die unter einem gemeinsamen Gesetz lebende Gesellschaft (hebr. ‘ammit, v.17). Das in vielen Kulturen der Antike geltende Grundprinzip der Blutrache und der Vergeltung aus Rache ist im Alten Testament verboten! Auch der Mitmensch, der an seinen Nächsten durch schlimmste Vergehen schuldig geworden ist, gilt als Nächster (hebr. rea‘) und darum gilt: Dem Nächsten, auch wenn er zum Gegner und Feind wird, gilt grundsätzlich die gleiche Zuwendung und ihm gilt das gleiche Recht wie dem geschädigten Bruder, der geschädigten Schwester: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Das Gebot der Nächstenliebe ist von Anbeginn an ein Gebot der Feindesliebe!

(V. 33–34) Dass die Rechtskultur der „Gemeinschaft der Heiligen“ auch die Fremden einschließt, wird in Lev 19,33–34 sehr eindeutig und in Anwendung des Satzes der Nächsten- und der Feindesliebe eigens expliziert. Wer aus welchen Gründen auch immer in der Gemeinschaft der Israeliten Aufnahme und Schutz gesucht und gefunden hat, für den gilt das gleiche Recht wie für die Gemeinde selbst, die aus ihren zahllosen eigenen Erfahrungen des Leides und der Verfolgung weiß, dass alle Menschlichkeit und die Menschheit überhaupt allein aus der befreienden und schützenden Kraft Gottes lebt.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Gott ist der Herr über alles Recht. Er ist kein Rachegott, sondern ein Gott des Rechts. Darum ist die Gemeinde Gottes auf ihn hin orientiert und lebt unter dem Hauptgebot (Dtn 6,4–5; Mk 12,29–31). In seiner Auslegung von Lev 19,18 tritt Jesus nach der Bergpredigt für eine Kultur der Entfeindung ein und schärft so das Liebesgebot der Gemeinschaft der Kinder des Reiches Gottes noch einmal in radikaler Weise neu ein (Mt 5,43–48).

5. Theologische Perspektivierung

Perspektiven für die Predigt ergeben sich aus der eingangs gestellten Frage an die Gottesdienstgemeinde: Welche Konsequenzen hat unser Glaube und unser religiöses Leben für unseren Alltag und für die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der wir heute leben?

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Übersetzung Reinhard Achenbachs verwendet gezielt Umschreibungen der originalsprachlichen Begriffe. Das löst die Weisungen von ihrer sprachlichen Patina und bringt die Lebensweltnähe zum Ausdruck, um die es ‚damals‘ wie heute geht. Dazu gehört z.B. respektvolles Begegnen statt Furcht / Ehrfurcht vor Mutter und Vater (V.3). Es lohnt sich, Dinge bei dem Namen zu nennen, wie sie gegenwärtig gebraucht werden: ausbeuten statt berauben; gehörlos statt taub (V.14) und – wenn auch nur angedeutet – Migrant statt Fremdling (V.18): Übersetzungen müssen nicht nur dem altsprachlichen Text gerecht werden, sondern als gottesdienstliche Lesung sensibel gegenüber dem Sprachgebrauch der Heutigen sein, beispielsweise der Gehörlosengemeinschaft, die V.14 inkludiert und die nicht objektiviert wird.

Die Beschreibung des Heiligkeitsgesetzes als einer Sammlung von „Grundprinzipien einer achtsamen Lebensführung“ macht den Abschnitt zugänglich: Es wird klar, dass es nicht um Ansprüche v.a. an die besonders Frommen oder Religiösen geht, die ohnehin schnell der Scheinheiligkeit verdächtigt werden, wie dies erzählstrategisch auch beim „Barmherzigen Samariter“ geschieht. Die gesamte „Kultusgemeinde“ ist die israelitisch-jüdische Kultusgemeinde des Zweiten Tempels, die sich hier um die Regeln des Zusammenlebens bemüht. Daran kann sich auch die christliche Gemeinde orientieren. Aber das Heiligkeitsgesetz lässt sich nicht so einfach ‚eingemeinden‘, schon gar nicht christlich.

Ein Aspekt, der sich wiederum mit dem Evangelium des 13. Sonntags nach Trinitatis berührt, dem „Barmherzigen Samariter“ (Lk 10,25–37), ist, dass Heiligkeit (als Erfüllung des Gesetzes) nicht durch amtlich bekundete oder ethnische Zugehörigkeit besteht, sondern in der Barmherzigkeit, wie sie der ‚Fremdling‘ vorbildlich leistet, als Schutz Gewährender, nicht mehr nur Bedürftiger. Als freien Akteur von Barmherzigkeit erkennt ihn Jesus an, zollt ihm Respekt und befreit ihn narrativ aus der strukturellen Diskriminierung, ganz wie Lev 19,33f. fordert. Auch daran kann man sich orientieren.

Wie die Exegese deutlich macht, geht es durch das wiederholte „Ich bin Jhwh, dein Gott!“ darum, die unablässige Rückbindung aller Lebensregeln und die Grunderfahrung der Befreiung aus Ungerechtigkeit zu Freiheit zusammen zu denken. Heiligkeit, das Wesen des befreienden Gottes, spiegelt sich nicht erst in liturgischer Gestaltung, sondern als Rechtsordnung gemeinsamen Lebens, die die Migrant:innen, soziale Ungleichheiten und Beeinträchtigte nicht übergeht.

2. Thematische Fokussierung

Die von A gestellt Leitfrage beschäftigt auch im Blick auf die heutige christliche Gemeinde: Woran kann man erkennen, ob Menschen, die ‚Sonntags zur Kirche gehen‘, auch in ihrem Alltag nach Gottes Geboten leben – anders formuliert: woran erkennt man, ob Zugehörigkeit zur Kirche mit einer theologisch-ethisch verantworteten Lebensführung übereinstimmen? Das Heiligkeitsgesetz des Zweiten Tempels hält sich an den Dekalog, den es geradezu durchbuchstabiert. Er bezieht sich in konzentrischen Kreisen auf das gesamte Leben, Solidarität mit Mitmenschen und Natur eingeschlossen.

In Zeiten religiöser Pluralität und – mehr noch – abnehmender Religiosität stellt sich diese Frage nach erkennbar gerechtem, solidarischen und barmherzigen Umgang in gesteigerter Weise an kirchliche Gemeinschaften auf einer Mikro-Ebene (im sozialen Nahbereich, in face-to-face-Beziehungen), auf einer Meso-Ebene (Institutionen und Organisationen mittlerer Reichweite, als caring community) und auf einer Makro-Ebene (in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung), wie dies der Sozialethiker Karl-Wilhelm Dahm beschrieb (vgl. K.W. Dahm 2015, S. 457). Michael Schibilsky formulierte zugespitzt: „Keine steile Theologie ist gefragt, sondern ein schlichter, christlicher Glaube, der bescheiden, eindeutig, nachvollziehbar, alltagsrelevant und menschlich ist – der ‚glaub‘würdig ist und Zukunft eröffnet.“ (Schibilsky 1983, S. 190).

Die berechtigten aber enttäuschten Ansprüche an die Übereinstimmung von Kanzelreden, feierlichen Gottesdiensten und konkretem Handeln sind durch die Ergebnisse der ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie erneut offenbar geworden. Das gehört zum aktuellen Kontext des Predigt-Textes, und zwar auf Mikro-, Meso- und Makroebene. Es ist klar: Wir brauchen ein neu geschärftes Regelbewusstsein. Das hat das Heiligkeitsgesetz schon seinerzeit erkannt, denn es stellt in Lev 18 klare Regeln gegen sexuelle Gewalt auf, beginnend im sozialen Nahraum der Familie, letztlich alle gesellschaftlichen und sozialen Bezüge betreffend. Die Mahnung von Lev 19,3 muss sich auch die christliche Gemeinde sagen lassen: IHR sollt heilig sein.

3. Theologische Aktualisierung

Der Anspruch des Texts lässt sich nicht umgehen. Aber sein Anspruch an eine achtsame, gerechte und solidarische Lebensführung der gesamten gottesdienstlichen Gemeinschaft erfolgt ohne jeglichen Moralismus, denn er basiert auf der Erfahrung des befreienden Gottes. Wie der Text refrainartig mit dem Wort „Herr“ den wahren Gottesnamen, Gottes Wesen und die grundlegende Erfahrung der Befreiung mit jeder Weisung verbindet, so gilt es heute ethische Reflektionen und Aufforderungen zu einer Neuausrichtung mit einer theologischen Besinnung zu verbinden. Das Wiederholen tradierter Formeln (wie der Überwindung des Gesetzes durch das Evangelium) genügt nicht. Zurecht schließt Reiner Anselm, dass die alte „Überzeugung, auf der Grundlage des Glaubens über ein besseres moralisches Koordinatensystem als andere und zudem über die Vollmacht zur Beurteilung individuellen und kollektiven moralischen Verhaltens zu verfügen [mit dem] Bekanntwerden der Fälle sexualisierter Gewalt in der Kirche […] tiefe Risse bekommen“ hat (Anselm 2022, S. 58). Entsprechend mahnt Anselm zu einer Wiederentdeckung der „orientierenden Kraft des Gesetzes“ (tertius usus legis) in selbstkritischer Erkenntnis von Machtverhältnissen und Machtstrukturen und deshalb in Anerkennung von Grund- und Freiheitsrechten. Die Predigt hat Anteil an dieser Bemühung und könnte jeden einzelnen Handlungsimpuls durchgehen. Exemplarisch lässt sich das an V.14 durchspielen. Das Verbot von Schmähreden gegen Gehörlose und des Errichtens von Hindernissen gegen Sehschwache ist inklusionssensibel, wird doch gerade eine Diskriminierungspraxis kritisiert, die exakt die Beeinträchtigungen zum Ausgangspunkt nimmt: geschädigt werden die Betroffenen genau da, wo sie verletzlich sind. Nicht die exkludierende Handlung als solche, sondern ihre Intentionalität widerspricht dem Heiligkeitsgesetz. Es rechnet mit der menschlichen Neigung, anderen aus Bosheit, Rache oder Übervorteilung übel mitspielen zu wollen um daraus einen Vorteil für sich selbst zu gewinnen. Die Rückbindung der Mahnung an die Ehrfurcht gegenüber Gott bedeutet die Anerkennung, dass der andere, der Mensch mit Beeinträchtigung – und im weiteren auch der Gegner vor Gericht (V.16) und der Fremdling (V.33) – ebenso Geschöpf Gottes ist, dem Gottes barmherziges und befreiendes Handeln in gleicher Weise gelten. Letztlich verbietet es das Heiligkeitsgesetz, andere zu Feinden zu erklären, um ihnen dann Gewalt antun zu können. 

4. Bezug zum Kirchenjahr

Angesichts der Herausforderung durch Lev 19 nach Offenbarwerden des Missbrauchs in evangelischer Kirche und Diakonie stimmt, was Andreas Stahl formuliert: „Wie ist das mit dem christlichen Glauben, der für die Schwachen und Unterdrückten einsteht? Wie kommen Gewaltbetroffene in Gottesdiensten vor? Wer kann der barmherzige Samariter sein, wenn Kirchenvertreter die Räuber waren oder achtlos vorbeigegangen sind?“ (Stahl 2022, S. 170). Das Evangelium am 13. Sonntag nach Trinitatis ist Luk 10,25–37, der „Barmherzige Samariter“.

Lev 19 hält an der Möglichkeit einer „Gemeinschaft der Heiligen“ fest, sofern sie Fremde und Einheimische gleichermaßen unter das Liebesgebot stellt und für beide die Grunderfahrung von Vulnerabilität erkennt: alle waren selbst einmal Fremdlinge, Schutz- und Versorgungsbedürftige. Gerade als solche feiern wir gemeinsam Gottesdienst, sind Gemeinschaft der Heiligen und Gemeinde des Heiligen. Zumindest sind wir auf dem Weg dorthin.

5. Anregungen

Heiligkeitsgesetze und die harte Erkenntnis eigener Verstrickung sind wohl nicht anders zu ertragen als mit einer Prise Humor. Da hilft Hanns Dieter Hüsch. „Das ist ja eine schwierige Geschichte / Das geht nicht von heut auf morgen / Ich muß mal meine Brille putzen / Ich vergeß das immer / Es gibt Leute die reißen mir manchmal die Brille / Einfach von der Nase / Weil sie nicht länger mit ansehen wollen / Daß meine Brille so dreckig ist / Weil sie nicht einsehen wollen daß ich mir die Augen / Kaputtmache / Für nichts und wieder nichts / Denn das meiste in der Geschichte ist ja doch / Für nichts und wieder nichts“

Literatur

  • R. Anselm, Toxische Leitvorstellungen, in: J. H. Claussen (Hg.), Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche. Wie Theologie und Spiritualität sich verändern müssen, Freiburg i.B. 2022, 57–74.
  • K.-W. Dahm, Evangelische Kirche im gesellschaftlichen Wandel. Herausforderungen an Kirchenverständnis. Pfarrberuf. Christliche Ethik, Frankfurt a.M. 2015.
  • Forschungsverbund ForuM (Hg.), Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderer Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland, Hannover 2024.
  • H. D. Hüsch, Es kommt immer was dazwischen, München 2001.
  • M. Schibilsky, Alltagswelt und Sonntagskirche. Sozialethisch orientierte Gemeindearbeit im Industriegebiet, München 1983.
  • A. Stahl, Was bedeutet „Aufarbeitung“, in: J. H. Claussen (Hg.), Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche. Wie Theologie und Spiritualität sich verändern müssen, Freiburg i.B. 2022, 157–172.

Autoren

  • Prof. Dr. Reinhard Achenbach (Einführung und Exegese)
  • Prof. Dr. Traugott Roser (Praktisch-theologische Resonanzen)

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