Geschichte Israels, Methodik
(erstellt: Oktober 2019)
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1. Vorbemerkung zur Terminologie
Wenn hier allgemein von der Geschichte Israels gesprochen wird, ist dies einer konventionellen Sprachregelung in der alttestamentlichen Wissenschaft geschuldet. Der Ausdruck selbst ist mehrdeutig (→ Israel
In kulturgeschichtlicher Perspektive muss die Bezeichnung Israel dagegen weiter gefasst werden. Die Geschichte Israels nimmt ihren Ausgangspunkt dann am besten bei der frühesten außerbiblischen Erwähnung des Namens Israel auf der Siegesstele des ägyptischen Pharao → Merenptah
Schließlich muss eine kulturgeschichtliche Betrachtungsweise der Geschichte Israels stets die politische und kulturelle Verflochtenheit Israels mit den es umgebenden Gesellschaften bedenken, in deren Geschichte sie unlöslich eingeschrieben ist. Im Idealfall wäre die Geschichte Israels demnach als Bestandteil einer Gesamtdarstellung der Kulturgeschichte Palästinas zu entwerfen.
2. Geschichte und Geschichten. Methodische Grundlagenreflexion
Das Alte Testament besitzt keinen abstrakten Begriff von ‚Geschichte‘ (→ Geschichte / Geschichtsschreibung
Geschichtsschreibung ist stets Konstruktion. Sie kann nicht darstellen, „wie es eigentlich gewesen ist“ (Ranke), denn „die Vergangenheiten sind vergangen“ (Droysen). Die Vergangenheit selbst ist für den Historiker unerreichbar. Aber sie hat Spuren hinterlassen, denen er nachgehen kann. Dabei kann Geschichte nur durch bewusste Selektion, Abstraktion und Kombination von Daten kohärent konstruiert werden. Dieser Prozess wird durch das erkenntnisleitende Interesse und die historiographischen Prinzipien des Historikers bestimmt. Geschichtsschreibung ist also ein Interpretationsgeschehen, das auf identitätsstiftende Sinnbildung angelegt ist und darin selbst historisiert werden muss. Als produktive Erinnerung des Vergangenen integriert sie retrospektive und prospektive Perspektiven, insofern das geschichtliche Erzählen auf ein gegenwärtiges Verstehen abzielt, um daraus handlungsorientierende Impulse abzuleiten. Die Bedeutung, die dem Standort und dem Interesse des Erzählers in diesem Prozess zukommen, macht deutlich, dass es nicht nur eine Geschichte gibt, sondern viele Geschichten, und dass die Vergangenheit unter veränderten Erkenntnisvoraussetzungen immer wieder neu konstruiert und begriffen werden muss. Dies gilt für die antike Geschichtsschreibung ebenso wie für die moderne Geschichtswissenschaft. Der Unterschied zwischen beiden besteht aber darin, dass die wissenschaftliche Geschichtsforschung zwischen Erfahrung (als tatsächlicher Begebenheit), Deutung und handlungsorientierender Sinnbildung methodisch unterscheidet und je gesondert nach deren Geltungsanspruch fragt (vgl. Rüsen). Zugleich reflektiert sie ihre Voraussetzungen und macht sich selbst zum Gegenstand historischer Betrachtung (vgl. Sandl).
Die Unterscheidung zwischen objektiver Ereignisgeschichte und symbolischer Sinngeschichte hat E. Voegelin im Blick auf das Geschichtsbewusstsein Israels in die Dialektik von pragmatischer und paradigmatischer Geschichtsschreibung gefasst. Dabei versteht er unter paradigmatischer Geschichte das identitätsstiftende Gedächtnis der Geschichte Israels als einer „heiligen Geschichte“, in der „die einzelnen Geschehnisse als Paradigmen für Gottes Weg mit den Menschen in dieser Welt erscheinen“. Der Wahrheitsgehalt der Darstellung liegt gerade darin begründet, dass ihr „Wesen als Paradigma sorgfältig herausgearbeitet wird“, ohne dass damit bestritten würde, dass die Schilderung ihrerseits einen „pragmatischen Kern“ besitzt (Voegelin, 37f.). Dies hat zur Folge, dass die Darstellung einem steten Prozess der Fortschreibung und Neuinterpretation unterliegt mit dem Ziel, ihre paradigmatische Essenz zu verstärken und angesichts sich verändernder kultureller und sozialer Rahmenbedingungen zu sichern.
Das Phänomen paradigmatischer Geschichte ist in den historischen Kulturwissenschaften unter der Kategorie des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ (vgl. Assmann; Halbwachs) aufgegriffen und weitergeführt worden. Darunter werden solche Texte, Bilder und Riten subsumiert, mittels deren eine Gesellschaft (oder Gruppe) ihr Selbst- und Weltbild entwirft und festigt. Sie repräsentieren ein kollektives Wissen, vorrangig über die Vergangenheit, das identitätsbildend und handlungsorientierend wirkt. Kollektive Gedächtnisse oder Erinnerungskulturen entstehen in einem reziproken Rezeptionsprozess, in dem der Einzelne als Angehöriger einer Erinnerungsgemeinschaft deren standardisierte, narrative Sinnkonstruktionen der Vergangenheit übernimmt und damit deren identitätsformierende Funktion erneuert (vgl. Kansteiner). Dabei steht dem Individuum eine Vielzahl symbolischer Repräsentationen der Vergangenheit zur Verfügung, unter denen es eine Auswahl trifft, die bestimmte Wissensbestände aktualisiert. Andere narrative Darstellungen der Vergangenheit, die nicht mehr rezipiert werden, verlieren dagegen ihre identitätsstiftende Bedeutung und geraten in Vergessenheit. Umgekehrt können neue narrative Sinnzusammenhänge gebildet werden, um die kulturelle Identität einer Gesellschaft unter veränderten Verstehensvoraussetzungen neu zu begründen. Insofern können ‚kulturelle Gedächtnisse‘ als dynamische Systeme beschrieben werden.
Die narrativen Systeme, die den Repräsentationen der Vergangenheit zugrunde liegen, restrukturieren und refigurieren das Gewesene. Im Modus der Erzählung erfolgt eine sinnstiftende Verknüpfung vergangener Ereignisse nach bestimmten Ordnungsprinzipien, die einen kohärenten und identitätsvergewissernden Plot hervorbringen. Erst die Plotbildung nötigt zur Differenzierung, Gewichtung und Verknüpfung von Einzelereignissen, deren der Einzelne in der Erinnerung erst retrospektiv inne wird. Nur indem die Vergangenheit erzählt wird, tritt sie selbst hervor – anders ist sie nicht zugänglich. Im Vorgang der vergegenwärtigenden Erinnerung partizipiert der Einzelne an der Geschichte und nimmt sie zugleich als von seiner Gegenwart unterschieden wahr. In dieser Verschränkung der Zeitebenen konstituiert sich die identitätsformierende und stabilisierende Pragmatik der erinnerten Geschichte, in der Herkunft, Dasein und Fortbestand der Erinnerungsgemeinschaft begründet werden.
Die Struktur paradigmatischer Geschichtskonstruktionen liegt auch den biblischen Repräsentationen der Vergangenheit zugrunde. Die erzählte Welt refiguriert und ordnet die vergangenen Ereignisse und schreibt ihnen sinnstiftende Bedeutung zu. Dies geschieht unter wechselnden Perspektiven und Voraussetzungen der Erzähler in ganz verschiedener Weise. So erzählt beispielsweise die → Chronik
Ein kritisches Korrektiv zu den narrativen Systemen des Alten Testaments stellen die Grabungsbefunde der → Palästinaarchäologie
Ein klassisches Beispiel für die problematische Korrelation von Archäologie und biblischem Text bietet die Erzählung von der Eroberung → Jerichos
Und Jhwh sprach zu Josua: „Siehe, ich habe Jericho und seinen König, tüchtige Kämpfer, in deine Hand gegeben. Und ihr sollt um die Stadt herumziehen, alle Krieger, einmal sollst du sie die Stadt umkreisen lassen. So sollst du sechs Tage lang tun. Und sieben Priester sollen sieben Widderhörner vor der Lade hertragen. Aber am siebten Tag sollt ihr siebenmal um die Stadt herumziehen, und die Priester sollen die Widderhörner blasen. Und beim Blasen des Horns, wenn ihr den Klang des Widderhorns hört, soll das ganze Volk in lautes Kriegsgeschrei ausbrechen. Dann wird die Stadtmauer darunter einstürzen, und das Volk soll (in die Stadt) hinaufsteigen, ein jeder, wo er gerade ist.“ (Jos 6,2-5
Die geschilderten Ereignisse muten bereits auf den ersten Blick weniger wie ein Kriegsbericht als wie eine kultische Prozession an. Selbst wenn in Rechnung gestellt wird, dass Widderhörner als Signalinstrumente im Kampf Verwendung fanden und die → Lade
Der Grabungsbefund in Jericho (Tell es-Sulṭān) erbrachte den Nachweis monumentaler Befestigungsanlagen, die jedoch in die Mittlere Bronzezeit datieren (MB II, ca. 2000-1550 v. Chr.). In der Spätbronzezeit (ca. 1550-1200 v. Chr.), in der gemeinhin Israels Auszug aus Ägypten angesetzt wird (→ Meerwundererzählung
3. Texte – Steine – Bilder. Die Quellen zur Geschichte Israels
Geschichte braucht Quellen, um geschrieben werden zu können. Welche Quellen jeweils herangezogen werden, bestimmt sich durch die Auswahl und das leitende Interesse des Historikers, der eine bestimmte Ansammlung von Daten erst in den Rang einer Quelle erhebt. Der Auswahl und kritischen Bewertung der Quellen kommt daher entscheidende Bedeutung für die jeweilige Geschichtskonstruktion zu. Im Blick auf die Geschichte Israels stellt sich hier vor allem das Problem der Verhältnisbestimmung der biblischen Quellen zu den archäologischen Artefakten. Ist die Darstellung der Geschichte Israels einzig auf Letztere zu gründen, oder ist ihnen wenigstens eine Richtlinienkompetenz zuzubilligen, an der sich der Quellenwert der biblischen Geschichtserzählungen bemisst? Angesichts der begrenzten Datenmenge, die dem Historiker auf diesem Feld zur Verfügung steht, ist ein bewusster Verzicht auf eine bestimmte Gruppe von Quellen nicht ratsam. Stattdessen bedarf es einer umfassenden Sichtung und kritischen Beurteilung sämtlicher erreichbarer Daten, um ein möglichst plastisches Bild des Untersuchungsgegenstands zu gewinnen.
„Die Geschichte liegt nicht in den Quellen, aber sie braucht Quellen, um geschrieben werden zu können“ (Uehlinger, 31). Der Akt der historischen Konstruktion beginnt mit der Selektion der Daten durch den Historiker, dessen Auswahl eine bestimmte Menge (oder Gruppe) von Daten in den Rang einer Quelle für seinen Untersuchungsgegenstand erhebt. Seine Wahl ist dabei von mehreren Faktoren abhängig: dem vorhandenen (und zugänglichen) Datenbestand, dem erkenntnisleitenden Interesse des Historikers und seinen epistemologischen Voraussetzungen, d.h. vom jeweiligen Forschungsdesign. Die Prinzipien narrativer Geschichtskonstruktionen kehren also unter den Bedingungen der modernen, methodisierten Geschichtsforschung wieder, nur dass sie in ihr zum Gegenstand einer kritischen Methodenreflexion gemacht werden, als deren Parameter historische Plausibilität und Konsensobjektivität gelten können (vgl. Rüsen). Als potenzielle Quellen für die Geschichte Israels kommen neben der biblischen Überlieferung vor allem drei Gruppen von Quellen in Betracht: a) Textquellen (Inschriften, Gebrauchstexte, literarische Werke der Umwelt Israels), b) Bildquellen (Bildträger der Klein- und Großkunst, Plastiken) und c) Öko- und Artefakte (Umweltbedingungen, Flora und Fauna, Siedlungsstrukturen, Architektur und Kleinfunde). Alle diese Quellengruppen sind bei archäologischen Grabungen zutage getreten (streng genommen wären hierunter auch die Bibelhandschriften aus → Qumran
3.1. Textquellen
Wie die biblischen Narrative bedürfen auch die archäologischen Fundstücke einer kritischen Sichtung und Interpretation, welche die Gattung und Pragmatik der Objekte berücksichtigen. Dabei ist auf die Unterscheidung zwischen einer kulturgeschichtlichen Betrachtung, die Entwicklungen über einen längeren Zeitraum hinweg analysiert (histoire conjoncturelle), und der Ereignisgeschichte (histoire événementielle) zu achten (Braudel) und diese bei der Gewichtung der Quellen in Rechnung zu stellen. Bei den textlichen Quellen sollte zwischen Gebrauchstexten (z.B. Briefe, Rechts- und Wirtschaftsdokumente) und literarischen Werken (z.B. Annalen, Königsinschriften) differenziert werden.
3.2. Bildquellen
3.3. Öko- und Artefakte
Als letzte Gruppe sind die Befunde der natürlichen Umweltbedingungen und der Siedlungsarchäologie zu nennen. Die Geschichte eines Ortes oder einer Region ist ganz wesentlich von ihren geologischen Voraussetzungen bestimmt (z.B. Landschaftsformationen, natürliche Grenzen, Bodenbeschaffenheit). Dies ist gerade für das kleinteilige mittelpalästinische Bergland von kaum zu überschätzender Bedeutung. Die unterschiedlichen geologischen und klimatischen Bedingungen in den einzelnen Subregionen führen zu einer teils erheblich differierenden kulturgeschichtlichen Entwicklung und nötigen zu wirtschaftlicher wie militärischer Kooperation (→ Stämme Israels
Wie die übrigen nicht-textlichen Quellen leistet auch die Siedlungsgeschichte einer Ortslage, einer Region oder einer Landschaft vor allem einen Beitrag zur Kenntnis der histoire conjoncturelle. Architektur und Kleinfunde geben einen Einblick in die ökonomischen, sozialen und religiösen Entwicklungen, die für das Verständnis der Ereignisgeschichte unverzichtbar sind, selbst wenn sie nur in Ausnahmefällen unmittelbar mit ihr korreliert werden können. So sind beispielsweise die demographischen Umbrüche in Palästina am Übergang von der Spätbronze- zur frühen Eisenzeit, die anhand der Siedlungsgeschichte der Region beschrieben werden können, von entscheidender Bedeutung für ein Verständnis der historischen Entwicklung, die zur Ausbildung der israelitischen Stammesgesellschaft geführt hat. Umgekehrt bieten die Ausgrabungen in Lachisch (Str. III, spätes 8. Jh. v. Chr.) ein eindrucksvolles Bild von den Ereignissen der Belagerung und Zerstörung der Stadt durch die Truppen Sanheribs im Jahr 701 v. Chr., wobei die Datierung des archäologischen Befundes nur mittels der Korrelation mit schriftlichen und bildlichen Nachrichten über das Ereignis möglich ist. Auch für die Ergebnisse der Palästinaarchäologie gilt jedoch, dass die Befunde zuerst mit den Methoden archäologischer Forschung gesichtet und kritisch interpretiert werden müssen (vgl. Vieweger). Dabei müssen auch die Grenzen der Beweiskraft archäologischer Daten bedacht werden, die für sich genommen häufig mehrdeutig bleiben (vgl. Timm). Umso wichtiger ist es, den archäologischen Befund nicht vorschnell von einer bestimmten narrativen Geschichtskonstruktion her zu vereinnahmen.
Angesichts der teils inkohärenten Quellenbefunde und der geschichtshermeneutischen Pragmatik der biblischen narrativen Systeme ist in der jüngeren Forschung eine kontroverse Debatte um den historischen Stellenwert der biblischen Überlieferung für die (Re-)Konstruktion der Geschichte Israels entbrannt. Die unterschiedlichen Haltungen werden dabei oft mit dem vergröbernden Antagonismus von ‚Minimalisten‘ und ‚Maximalisten‘ bezeichnet (vgl. Krüger). Die Vertreter der letzten Gruppe legen (bei erheblichen Differenzen im Einzelnen) das biblische Geschichtsbild als Matrix der Geschichte Israels zugrunde. Sie halten die biblischen Angaben selbst dort für historisch verlässlich, wo sie nicht durch außerbiblische Daten bestätigt werden können oder sogar scheinbar im Widerspruch zu diesen stehen. Nur in solchen Fällen, in denen die biblische Darstellung von den übrigen Quellen zweifelsfrei widerlegt wird, sind sie zu Korrekturen an der biblischen Geschichtskonstruktion bereit. Dabei erkennen viele Vertreter dieser Auffassung die pragmatische Färbung der biblischen Narrative durchaus an, gestehen den Details der ‚erzählten Welt‘ jedoch einen hohen Grad an historischer Plausibilität zu (vgl. Miller). Kann ihre Grundhaltung gegenüber dem biblischen Text als ‚Hermeneutik des Vertrauens‘ bezeichnet werden, so herrscht unter den ‚Minimalisten‘ eine ‚Hermeneutik des Verdachts‘ vor. Sie ziehen aus der Einsicht in die tiefgreifende geschichtstheologische Formung der biblischen Überlieferung die hermeneutische Konsequenz, dass deren Angaben überhaupt nur dort, wo sie durch ‚external evidence‘ bestätigt werden, für eine (Re-)Konstruktion der Geschichte Israels herangezogen werden können (vgl. Davies; Thompson). Diese skeptische Grundhaltung mündet letztlich in die Forderung, dass die Geschichte Israels weitgehend als Geschichte Palästinas unter Absehung der biblischen Quellen geschrieben werden kann und muss (vgl. Niemann).
Damit sind die beiden extremen Pole markiert, die sich in der jüngsten Diskussion jedoch beide als kaum haltbar erwiesen haben (vgl. Schaper; Frevel). Stattdessen ist für eine differenzierte Gewichtung der unterschiedlichen Quellengruppen plädiert worden, für die sich die Unterscheidung in Primär-, Sekundär- und Tertiärquellen eingebürgert hat (Knauf). Hierbei ist zu beachten, dass keine der Quellengruppen pauschal einer der genannten Kategorien zugeordnet werden kann, wie dies bisweilen den Anschein hat, wenn etwa die archäologischen Daten verallgemeinernd als ‚primary evidence‘, die biblischen Erzählungen dagegen als Sekundär- oder Tertiärquellen beurteilt werden. Ein zweites Missverständnis, das gelegentlich auftritt, betrifft den historischen Wert von Primär- und Sekundär- bzw. Tertiärquellen, über den die Kategorisierung für sich noch nichts aussagt. Die Unterscheidung bezieht sich nämlich zuerst auf rein prozedurale Aspekte. Danach zieht der Historiker zunächst solche Quellen heran, die im Verlauf der Ereignisse selbst entstanden sind (Primärquellen), um ein erstes Bild von den Verhältnissen zu gewinnen. Erst im Anschluss daran wird er auf Daten zurückgreifen, die in einem weiteren Abstand zu den Geschehnissen stehen und diese bereits unter einem bestimmten Blickwinkel darstellen (Sekundär- bzw. Tertiärquellen). Dabei ist der zeitliche Abstand der Quellen zu den Ereignissen, die sie beschreiben, graduell verschieden. Auch hier bestimmt das Kriterium der relativen zeitlichen Nähe die Reihenfolge, in der die Sekundär- bzw. Tertiärquellen in die historische Untersuchung einbezogen werden. Für alle Quellen gilt, dass sie einer kritischen, methodengeleiteten Interpretation bedürfen, um ihren historischen Informationswert zu bestimmen.
Das Kriterium der Datierbarkeit, auf dem die Rubrizierung in Primär- und Sekundärquellen beruht, trägt jedoch eine gewisse Unschärfe in sich. Im Blick auf die archäologischen Quellen ist zwar unstrittig, dass diese im Verlauf der Ereignisse selbst entstanden sind und insofern als ‚primary evidence‘ angesehen werden müssen, doch ist dabei an zweierlei zu erinnern: Zum einen lassen sich die archäologischen Daten in der Regel nur grob datieren, gemessen an der Stratigraphie einer Ortslage, deren Epochenzugehörigkeit mittels einer vergleichenden Keramiktypologie bestimmt wird. Diese ist zwar für die Beschreibung kulturgeschichtlicher Entwicklungen hilfreich, für eine genauere chronologische Einordnung der Befunde jedoch meist unzureichend. Hinzu kommt das Problem der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, womit der Umstand gemeint ist, dass die materielle Kultur in verschiedenen Ortslagen oder Regionen eine variable Laufzeit besitzen kann. So herrschte in → Bet-Schean
Hinsichtlich der biblischen Quellen ist das Kriterium der Datierbarkeit doppelt problematisch: Hält man sich an den materiellen Befund der ältesten Handschriften, gelangt man für keinen Textbereich vor das 2. Jh. v. Chr. zurück (vgl. die Bibelhandschriften aus → Qumran
Eine Hierarchisierung der Quellen in Primär- und Sekundärquellen (in zeitlicher Abstufung) ist unter verfahrenstechnischen Gesichtspunkten zwar sinnvoll und notwendig, zumal sie einer Überfremdung der historischen Vorgänge unter dem Eindruck der biblischen Narrative vorbeugen kann. Damit sollte jedoch weder eine einseitige Präferenz der archäologischen Quellen einhergehen, noch eine pauschale Abwertung der biblischen Überlieferung. Ein bewusster Quellenverzicht wäre angesichts der begrenzten Datenmenge, die für die historische Arbeit zur Verfügung steht, geradezu fahrlässig. Jede Darstellung der Geschichte Israels oder ihrer einzelnen Epochen sollte daher so viele Daten einbeziehen wie möglich. Besonders bei komplementären oder kontrastiven Befunden ist darauf zu achten, dass diese nicht vorschnell zugunsten einer kohärenten Geschichtskonstruktion beiseitegeschoben werden. Stattdessen sollten derartige Befunde aufmerksam registriert und gegebenenfalls eine abschließende Bewertung offengelassen werden, bis weitere Daten oder verbesserte Interpretationsansätze eine Klärung herbeiführen können. Dabei ist besonders auf die von F. Braudel begründete Unterscheidung zwischen der histoire événementielle (Ereignis- oder Faktengeschichte) und der histoire conjoncturelle, die nach den großen Rhythmen der kulturellen und sozialen Entwicklung eines geographischen Raums fragt, Rücksicht zu nehmen (s.o.). So kann etwa die Kontinuität der materiellen Kultur der Eisenzeit IIC in Juda für sich keine hinreichende Antwort auf die umstrittene Frage nach der Historizität der Kultreformen unter dem judäischen König → Josia
4. Historisches und biblisches Israel – die Geschichte Israels als theologische Disziplin?
Die Geschichte Israels ist ein Teilgebiet der Geschichtswissenschaft und ihre Erarbeitung ist den Methoden der modernen Geschichtsforschung verpflichtet. Wie verhalten sich die alttestamentlichen Geschichtstheologien dazu? Muss zwischen Geschichte und Theologie strikt unterschieden werden, um einer biblischen Überfremdung des historischen Israel zu wehren? Mit anderen Worten: Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem historischen und dem biblischen Israel? Wer ‚Israel‘ ist, kann bereits im Alten Testament unterschiedlich bestimmt werden, und die konkurrierenden Geschichtsentwürfe repräsentieren das Ringen um die Identität Israels unter wechselnden historischen, sozialen und religiösen Konstellationen. Die biblischen Narrative erzählen die Vergangenheit angesichts der Herausforderungen ihrer Gegenwart. Darin reflektieren sie die eigene Geschichte und interpretieren sie jeweils neu. Eine Geschichtswissenschaft, die sich als historische Kulturwissenschaft versteht, muss die materielle Kultur einer Gesellschaft und ihre symbolischen Sinnbildungen, die sich wechselseitig bedingen, zueinander ins Verhältnis setzen, um ihre komplexen historischen und kulturellen Entwicklungen zu verstehen.
Die vorrangige kulturhermeneutische Funktion der Geschichtsschreibung ist die Identitätsvergewisserung ihrer politischen, sozialen oder religiösen Trägerkreise. Sie erreicht dies mittels eines kohärenten Narrativs, das die Vergangenheit mit der Gegenwart der Adressaten verschränkt, so dass zwischen beiden Kontinuität gestiftet wird, ohne ihre Unterschiedenheit aufzuheben. Die biblischen Geschichtserzählungen kreisen also vorrangig um das Problem der Identitätsbestimmung dessen, was ‚Israel‘ ist angesichts divergierender politischer und religiöser Entwicklungen. Die Selbstbilder, die sie dabei entwerfen, verstehen sich weder von selbst, noch repräsentieren sie ein homogenes Konstrukt. Wer oder was ‚Israel‘ ist, war in Israel selbst strittig. Von daher muss zwischen dem ‚biblischen Israel‘ und dem ‚historischen Israel‘ unterschieden werden, und diese Unterscheidung muss jeder Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte Israels berücksichtigen (vgl. Kratz). Sie darf jedoch nicht auf eine Weise vereinfacht werden, dass beide Größen kategorial voneinander getrennt würden, als gehöre das ‚biblische Israel‘, d.h. die identitätsformierenden biblischen Geschichtskonstruktionen, einzig zur ‚erzählten Welt‘ der biblischen Überlieferung und das ‚historische Israel‘ in den Bereich der (politischen) Geschichte. Dies würde verkennen, dass die narrativen Konstruktionen auf ein geschichtliches Selbstverständnis ihrer Trägergruppe(n) als „Israel“ abzielen. Das ‚biblische Israel‘ repräsentiert einen Ausschnitt des ‚historischen Israel‘, insofern die Kreise, die für die Abfassung und Weitergabe der biblischen Narrative verantwortlich zeichnen, selbst zur politischen Entität Israel resp. Juda gehören. Das ‚historische Israel‘ besteht jedoch aus einer Vielzahl soziologisch wie religiös differenter Bevölkerungsgruppen, für die jeweils mit eigenen Symbolisierungen der Vergangenheit gerechnet werden muss, die sich aber oft nur noch indirekt und bruchstückhaft aus den Quellen rekonstruieren lassen. Das narrative System des ‚biblischen Israel‘ unterliegt zwar seinerseits den Sinnbildungsprozessen der ‚erzählten Welt‘, bleibt jedoch konstitutiv an die gemeinsame Geschichte gebunden, die ihnen vorausliegt. Die ‚erinnerte Geschichte‘ der biblischen Literatur ist daher nicht nur – so sehr sie dies auch ist – als historische Quelle für die kulturellen Symbolisierungen heranzuziehen, die sich darin niedergeschlagen haben, sondern auch für die Rückfrage nach den geschichtlichen Ereignissen selbst, die in ihr vergegenwärtigt werden.
Die Geschichte Israels ist ein Teilbereich der Geschichtswissenschaft. Sie arbeitet nach den Grundsätzen der zeitgenössischen Geschichtsforschung (vgl. Knauf). Aber ist sie auch eine theologische (Teil-)Disziplin? Oder müssen eine theologische Interpretation des Alten Testaments (inkl. seiner Geschichtstheologie[n]) und die historische Rückfrage nach der Geschichte Israels wissenschaftssystematisch voneinander getrennt werden (vgl. Niemann)? Schon mit Blick auf ein Verständnis von Geschichte als einer historischen Kulturwissenshaft, die das reziproke Verhältnis der materiellen Kultur einer Gesellschaft und ihrer symbolischen Sinnbildungen bedenkt, um die komplexen kulturgeschichtlichen und politischen Entwicklungen zu verstehen (vgl. Schaper), ist diese Frage zu verneinen. Aber auch für die wissenschaftliche Theologie ist daran zu erinnern, dass Religion und Geschichte konstitutiv aufeinander bezogen sind. Die geschichtstheologischen Konstruktionen der ‚biblischen Erinnerungskultur‘ bedürfen einer historischen Analyse ihrer Voraussetzungen, um in ihrer kommunikativen Eigenart wahrgenommen und verstanden werden zu können. Religiöse Identität bildet sich stets in einer kritischen und konstruktiven Auseinandersetzung mit der eigenen (und kollektiven) Wirklichkeitserfahrung aus. Würden die theologischen Diskurse der biblischen Literatur von diesen Voraussetzungen abgelöst, verlöre ihr diskursives Profil an Schärfe und ihre theologische Interpretation an Substanz. Die Geschichte Israels bietet somit nicht nur ein notwendiges Korrelat für die alttestamentliche Literatur- und Religionsgeschichte, sie ist auch der Nährboden der theologischen Gedankenbildungen Israels und des antiken Judentums.
5. Erzählte Zeit. Das Problem der biblischen Chronologie(n) (Klaus Koenen)
5.1. Heilsgeschichtliche Datierungen
Nicht alle Datierungen der Bibel lassen sich sinnvoll in unseren Kalender übertragen (→ Kalender
5.2. Geschichtliche Datierungen
Historisch auswertbar sind dagegen Angaben wie die zur Zerstörung Jerusalems durch die → Babylonier
Für die Umrechnung alttestamentlicher Datierungen der Königszeit in unseren Kalender benötigt man a) das sog. interne Datierungssystem, das für die Könige Israels bzw. Judas jeweils ihr Alter bei Regierungsantritt und die Herrschaftsdauer angibt (vgl. z.B. 1Kön 22,42
Bei der Umrechnung alttestamentlicher Zeitangaben in unseren Kalender gibt es jedoch zum Teil erhebliche Probleme:
a) Widersprüchliche Angaben: Beispielsweise beginnt Israels König → Bascha
b) Ungenaue Angaben: David und Salomo sollen je 40 Jahre regiert haben, doch dürfte diese Zahl Vollständigkeit symbolisieren und nicht wörtlich zu nehmen sein.
c) Unterschiedliche Zählweisen: Die Monate vom Regierungsantritt eines Königs bis zum nächsten Jahreswechsel können als „Anfang der Herrschaft“ des Königs (z.B. Jer 49,34
d) Doppelte Zählung: Wenn ein König erkrankte und sein Sohn die Geschäfte führte, kam es zu Koregentschaften (vgl. 2Kön 15,5
e) Unterschiedlicher Jahresbeginn: Ein Jahr fällt auf keinen Fall mit unserem im Januar beginnenden Jahr zusammen. Der Zeit der Fruchtbarkeit entsprechend beginnt das neue Jahr in Palästina mit der Regenzeit im Herbst, in Mesopotamien dagegen mit dem Hochwasser der Flüsse im Frühjahr. Bei biblischen Datierungen ist oft nicht klar, ob sie den palästinischen oder seit assyrischer Zeit (8. Jh.) wie z.B. 2Sam 11,1
Alle diese Faktoren führen zu Unsicherheiten in der Datierung.
Über Ereignisse, die sich aus literarischen Quellen trotz aller Unsicherheiten einigermaßen sicher datieren lassen, können unter Umständen archäologische Schichten einschließlich ihres Keramikrepertoires datiert werden (→ Keramik
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
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) mit der Petition eines Erntearbeiters (7. Jh.). Aus: Wikimedia Commons; © Hanny, Wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz cc-by-sa 3.0 unported; Zugriff 22.10.2019 - Die Stele des moabitischen Königs Mescha (9. Jh. v. Chr.). Aus: Wikimedia Commons; © Neithsabes, Wikimedia Commons, lizenziert unter Creative Commons
-Lizenz, Attribution-Share Alike 3.0 unported ; Zugriff 26.10.2019 - Judäische Namenssiegel mit vierflügeligen Uräen, die je 2 Flügel nach beiden Seiten ausbreiten (8. Jh. v. Chr.). Aus: O. Keel / Chr. Uehlinger, Götter, Göttinnen und Gottessymbole (QD 134), Freiburg, 5. Aufl. 2001, Abb. 274b-d; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
- Die Stierstatuette der sog. Bull Site (offenes Heiligtum östlich von Tell Dōṭān; Eisenzeit I; BIBEL+ORIENT Datenbank Online
). © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz - Reliefs aus dem Südwest-Palast des assyrischen Königs Sanherib in Ninive zeigen die Eroberung der judäischen Stadt Lachisch 701 v. Chr. Aus: A.H. Layard, A Second Series of Monuments of Nineveh, London 1853, Pl. 21
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